Bericht über die Prozessbeobachtung im Verfahren gegen Pınar Selek
vor dem Schwurgericht in Istanbul 30. und 31. März 2023
Seit langem unterstütze ich als Beiratsmitglied das Kulturforum Türkei/Deutschland in Fällen von Schriftstellern, Journalisten, Filmemachern etc., die ins Ausland fliehen müssen. Ich berate sie ausländerrechtlich, bzw. bemühe mich um Stipendien und Arbeitsmöglichkeiten.
Osman Okkan, der Sprecher des Kulturforums Türkei/Deutschland hatte mich gebeten, kurzfristig nach Istanbul zum Prozess gegen Pinar Selek zu fahren. Beobachter aus vielen Ländern Europas, insbesondere aus Frankreich, wo Pinar jetzt wohnt, kämen zum Prozess. Deswegen müsse auch ein Vertreter aus Deutschland einreisen. Auch Günter Wallraff, der den Prozessverlauf gut kennt, bat mich darum. Da ich schon mehrere Prozesse in der Türkei beobachtet hatte, habe ich mich entschieden, dorthin zu fahren.
Zunächst zum absurden Hintergrund des Prozesses:
Pinar Selek ist Soziologin – jetzt Professorin – an der Universität Nizza. 1997, im Jahr der erheblichen Konflikte zwischen der Türkei und den Kurden, hatte sie sich entschieden, die gegnerischen Parteien zu interviewen und hierüber zu berichten, bzw. zu veröffentlichen, auch in der Hoffnung, hierdurch einen Beitrag zur Verständigung zu leisten.
Die Polizei versuchte, ihre Unterlagen zu beschlagnahmen und herauszubekommen, wer ihre Gesprächspartner waren. Pinar Selek weigerte sich diese preiszugeben.
Dann folgten weitere absurde Vorwürfe. In einem Kindergarten, den sie organisierte, sollte angeblich Sprengstoff gefunden worden sein. Später stellte sich heraus, dass das frei erfunden war. Der angebliche Sprengstoff lag seit langem auf der Polizeistation und hatte nichts mit dem Kindergarten zu tun.
Weiterhin sei sie angeblich verantwortlich für ein Bombenanschlag auf einem Gewürzmarkt in Istanbul. Später in dem Verfahren stellte sich heraus, dass ein Gaszylinder explodiert war. Ein Mitangeklagter hatte unter Folter behauptet, die Bombe mit Pinar Selek dort platziert zu haben. Später widerrief er dies und erklärte, dass er Pinar Selek gar nicht kennen würde.
Seit 25 Jahren werden diese Vorwürfe von der Staatsanwaltschaft immer wiederholt, obwohl es insgesamt vier Freisprüche gab, auch vom obersten Gerichtshof. Die Gerichte zeigten sich aber total chaotisch in Verfahrens- und Zuständigkeitsfragen, wahrscheinlich auch aus Angst vor der Staatsanwaltschaft, die dieses Verfahren nutzt, Frauenrechtlerinnen, Freunde der Kurden, Freunde von Minderheiten zu unterdrücken und zu diffamieren.
Die Prozessbeobachtung war von den französischen Mitstreitern gut vorbereitet. Wir waren insgesamt circa 100 Teilnehmer:innen, vorwiegend aus Frankreich, aber auch aus Norwegen, Holland und der Schweiz.
Ein Tag vor dem Prozess gab es eine Art Demonstration vor dem Gerichtsgebäude in Istanbul. Anwälte, alle in Roben, sollten reden. Leider waren die Juristen aus anderen Ländern noch nicht gekommen, so dass ich zusammen mit den zahlreichen Anwälten aus der Türkei, angezogen mit einer geliehenen Robe, sprechen durfte. Da ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel von dem Fall von Pinar Selek kannte, habe ich von meinen Erfahrungen aus den Prozessen gegen die kurdischen Bürgermeister von der HDP gesprochen, die zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden, mit absurden Vorwürfen, die nichts mit Straftatbeständen zu tun hatten, bzw. die seit Jahren in Untersuchungshaft sitzen, ohne dass die Verfahren abgeschlossen werden.
Diese Verfahren dienen dazu, demokratisch gewählte Bürgermeister zu kriminalisieren und demokratische Strukturen in der Osttürkei mit überwiegend kurdischer Bevölkerung zu zerstören. Auch die kürzlich erfolgte Verurteilung des Oberbürgermeisters von Istanbul diene dazu, politische Gegner mit Strafverfahren aus dem Weg zu räumen. Dies alles sind Zeichen einer verkommenen Justiz.
Gleichwohl zeigt der Fall von Pinar Selek , dass es auch Richter gibt, die sich nicht einschüchtern lassen. Pinar Selek wurde viermal frei gesprochen, aber offensichtlich darf diese Person nicht freigesprochen werden.
Ich habe auch an den Fall von Dogan Akhanli erinnert, zu dessen Prozess – in seiner Abwesenheit – ich auch zusammen mit einer Gruppe von Kölner:innen, u.a. auch mit Günter Wallraff gefahren war und an die Aktion zu Gunsten von Asli Erdogan, an der ich mich auch in Istanbul beteiligt habe, als sie noch im Gefängnis saß.
Ich habe meine Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass diese vom Staat gelenkte Justiz nach den Wahlen im Mai in diesen Jahres bald ein Ende haben wird.
Ich war sehr gerührt, als der Vater von Pinar Selek, Rechtsanwalt Alp Selek, mit über 90 Jahren immer noch praktizierender Anwalt und nach Osman Okkan eine lebende Legende der türkischen Linken, mich nach meiner Rede beglückwünschte und mich umarmte.
Während der Reden waren eine große Zahl von martialisch ausgestatteten Polizisten anwesend, hielten aber Abstand, so dass wir ungestört unsere Veranstaltung durchführen konnten.
Ganz anders an dem folgenden Prozesstag. Wir wollten gemeinsam wieder vor dem Gericht, eine kurze Demonstration mit Reden in Anwesenheit der Presse durchführen. Das wurde uns – circa 80 Teilnehmern – durch circa 300 Polizisten unmöglich gemacht. Sie kesselten uns doppelreihig ein und verengten den Kreis immer mehr, so dass wir immer enger zusammenstehen mussten.
Polizisten in Zivil kamen in den Kreis und nahmen uns Plakate und kleine Protestschilder ab. Wir entschieden uns, in das Gerichtsgebäude zu gehen, um dort vor der Polizei geschützt mit den Journalisten reden zu können. Die Journalisten und Kameraleute durften aber nicht in das Gebäude rein. Eine große Zahl von Polizisten mit ihren Plexiglasschilden kam in das Gebäude und riegelte die Wege ab, so dass der größte Teil der Besucher nicht in den Gerichtssaal kommen durfte.
Erlaubt waren nur Anwälte, einige Journalisten und Verwandte von Pinar Selek. Ich galt als Anwalt und hatte mich an der Tür gut positioniert, so dass ich ganz vorne sitzen konnte, zum Glück neben dem türkischen Korrespondenten von „Le Monde“, dessen Mutter aus Stuttgart kommt und der mir durch gelegentliche Übersetzung half, den Fortgang des Prozesses einigermaßen zu verstehen. Als wir alle im Gerichtssaal waren, durften auch einige weitere Zuschauer mit in den Saal.
Auf der rechten Seite des Richtertisches saßen die circa 20 Anwälte von Pinar Selek. Auf der linken drei Anwälte aus Frankreich, die von ihr beauftragt waren. Der Sprecher der türkischen Anwälte war Akin Atalay, früher Vorstandsvorsitzender und Justiziar der Zeitung Cumhuriyet, lange selbst in Haft.
Seine Rede dauerte circa eineinhalb Stunden, ab und zu unterbrochen durch den Richter. Dann plädierten die französischen Anwälte und beriefen sich auf die Menschenrechte und die üblichen verfahrensrechtlichen internationalen Regeln. Der Staatsanwalt sprach ca. 5 Minuten.
Nach einer kurzen Pause duften nur noch die Juristen und die wenigen Journalisten wieder in den Gerichtssaal.
Ergebnis: Das Verfahren wird verschoben auf den 29. September 2023. Den französischen Anwälten wurde geraten, sich mit ihrer Regierung auseinander zu setzen, damit Pinar Selek in die Türkei abgeschoben wird. Sie ist auch französische Staatsbürgerin, was die Richter wissen werden.
Die Vertagung zeigt, dass die Richter händeringend einen Grund suchen mussten, nicht zu entscheiden, sondern Zeit zu gewinnen. Vielleicht ändern sich die Zeiten in der Türkei und dann wollen sie nichts Falsches gemacht haben, auf dem Rücken einer Frau, die seit 25 Jahren unter diesem Verfolgungsdruck steht.
Nach dem Prozess bin ich mit sehr vielen französischen Prozessbeobachter:innen in ein Lokal gefahren, um eine sehr bewegende Videokonferenz mit Pinar Selek zu machen.
Bernhard von Grünberg
Istanbul 31. März 2023