Die „angeklagten Texte“ von Aslı Erdoğan

15.02.2020 | News

Die türkische Staatsanwaltschaft fordert für Aslı Erdoğan, Writers-in-Exile (WiE)-Stipendiatin des PEN-Zentrums Deutschland, unter dem absurden Vorwurf der „Terrorpropaganda“ eine Haftstrafe von insgesamt neun Jahren und vier Monaten. Die Anklage stützt sich auf Artikel, die bereits 2016 in der Türkei veröffentlicht wurden, ohne dass sie Gegenstand einer Untersuchung oder Anklage gewesen wären. Zu ihnen zählt ein Essay, der 2017 im Knaus Verlag als Teil des Bandes „Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch“ erschienen ist. Die Essaysammlung wurde vielfach ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Der Urteilsspruch wird für den 14.2.2020 erwartet.

Ihre Artikel in deutscher Sprache, enthalten in mehreren Büchern, können Sie in der Übersetzung von Sabine Adatepe (und Angelika Gillitz-Acar & Angelika Hoch-Hettmann bei „Faschismustagebuch: Heute“) hier lesen:

***

Aslı Erdoğan: Yetmiş beş – yetmiş altı / Fünfundsiebzig – sechsundsiebzig, 28.06.2016

Ich habe die Toten einzeln gezählt… Heute zum ersten Mal. Vor sechs Jahren, an einem heißen Julitag war ich zu Özgür Gündem gekommen, in einem kaum beachteten Gefängnis war ein KCK [1]-Gefangener in der Zelle der gewöhnlichen Straftäter verbrannt. Über ihn wollte ich schreiben. Über sein Leben und seinen Tod, seine Jugend. Über das gemeinsam entzündete, von menschlichem Fett glänzende Streichholz … Ich war gekommen und vor dieser Mauer stehengeblieben.

Ich habe die Toten einzeln gezählt. Fünfundsiebzig. Auch Musa Anter [2] stand hier, vor dieser Mauer, auch Gurbetelli Ersöz, die erste weibliche Chefredakteurin der Presse in der Türkei, auch Metin Göktepe[3] … In sechs Jahren hatte sich in dieser Stadt, diesem Viertel fast alles verändert – vor lauter Baustellen ist sogar das Meer nicht mehr zu sehen – doch die Gesichter der Toten, ihre Blicke sind stets dieselben, sie lächeln still. Fast alle sind sehr jung, sind ewig jung … Hundert Jahre Jugend und mehr … Ein letztes, stilles Land.

Ich blicke auf die Zeitungsausschnitte an der Mauer, die Zeitungen erschienen alle mit unterschiedlichen Namen, manche in Schwarzweiß. Özgür Gündem, Özgür Ülke, Ülkede Gündem, Yedinci Gündem, Yeni Gündem, Politika, Yeni Ülke, Yeni Bakış, Günlük … 21. September 1992: Sie haben unseren Autor ermordet. 4. Dezember 1994, Özgür Ülke wird mit Granaten beschossen. Ersin Yıldız kommt um, 23 Verletzte bei dem Feuer, das nicht gelöscht wird. September 2001: Festnahmen, Prügel und Tod bei der Friedensdemo. 27. Juni 2016: Seien wir eine Schale Wasser. Feuerkessel Lice[4] …

Für sich allein, dem Plakat noch nicht hinzugefügt, das Foto von Kadir Bağdu, dem Austräger, der vor zwei Jahren in Adana umgebracht worden war. „Wir müssen jetzt aktualisieren“, sagte ein Kollege, absolut realistisch …

Für meinen Solidaritätsartikel habe ich ein paar Details aus der langjährigen Geschichte der Repressalien gegen Özgür Gündem, die unter mehr als fünfzig Namen erscheinen musste, zusammengestellt. (Hüseyin Aykol, „Kürt Medyasında Yirmi Yıl“ [Zwanzig Jahre in den kurdischen Medien])

Özgür Gündem, erstmals erschienen am 30. Mai 1992, kam an insgesamt 580 Tagen heraus, gegen 486 Ausgaben wurden Verfahren angestrengt, ihre Journalist*innen wurden zu 147 Jahren Haft verurteilt.

* Unter der Leitung von Gurbetelli Ersöz erschien die Zeitung am 23. April 1993 erneut, vor Ablauf von acht Monaten, am 10. Dezember, am Tag der Menschenrechte, führten Hunderte Polizisten eine Razzia durch, als die Mitarbeiter*innen unter Misshandlungen festgenommen wurden, gingen sie in den Hungerstreik, Gurbetelli Ersöz wurde zu einer Haftstrafe verurteilt.

* Am 28. April 1994 erschien Özgür Ülke, in der Nacht des 2. Dezember wurde sie mit Granaten beschossen, Ersin Yıldız kam ums Leben, 23 Mitarbeiter*innen wurden verletzt. Am 2. Februar wurde die Zeitung per Gerichtsbeschluss verboten, gegen sieben Redaktionsleiter erging Haftbefehl.

Yeni Politika erschien im April, im August wurde sie verboten.

Ülkede Gündem: wurde im Juli 97 gegründet, Journalist*innen, Verteiler*innen waren Drohungen, Festnahmen und Misshandlungen ausgesetzt. Die Redaktion in Batman wurde mit Granaten beschossen. Im Oktober 98 wurde sie vom Staatssicherheitsgericht verboten.

Özgür Bakış: wurde im April 1998 gegründet, 125 Ausgaben wurden konfisziert, der Redaktionsleiter verhaftet.

* Mai 2000: 2000’de Özgür Gündem, Verfahren, Geld- und Haftstrafen … September 2003: Yeniden Özgür Gündem, an 545 Tagen 315 Verfahren … März 2004: Ülkede Özgür Gündem, 600 Verfahren, 16 Jahre Haft für den Redaktionsleiter … Januar 2007: Gündem, vor Ablauf eines Jahres auf Fingerzeig des Generalstabs verboten … Güncel, Alternatif, Gelecek, Günlük … Verbote, Publikationssperren …

Gegen Özgür Gündem, die diesen Namen im April 2011 wiederbekam, wurden bis heute über 200 Verfahren eingeleitet! Bevor GÜNDEM [die Agenda[5]] nicht frei ist, wird die Türkei nicht frei sein.

[1] KCK: Koma Civakên Kurdistan (Union der Verbände Kurdistans), eine Organisationsform der PKK.

[2] Musa Anter (1920-1992): kurdischer Intellektueller und Publizist, der 1992 in Diyarbakır in einen Hinterhalt gelockt und ermordet wurde.

[3] Der Journalist Metin Göktepe (1969-1996) wurde bei einer Massenverhaftung auf einer Beerdigung, über die er berichten wollte, zusammengeschlagen und erlag am selben Tag seinen Verletzungen, da ihm medizinische Behandlung verweigert wurde.

[4] Bei einer Militärgroßoperation in Lice/Diyarbakır wurde u.a. großflächig Wald in Brand gebombt.

[5] Wortspiel: „Özgür Gündem“ bedeutet „Freie Agenda“.


Aslı Erdoğan: Öteki Gündem / Die andere Agenda, 01.07.2016

In meinem am Dienstag im Rahmen des „Solidaritätseinsatzes“ publizierten Text („Fünfundsiebzig, sechsundsiebzig“) hatte ich versucht, die 25-jährige Geschichte von Repression und Widerstand der Zeitung Özgür Gündem in Schlaglichtern zusammenzufassen. (Improvisieren war noch nie meine Sache, ich brachte lediglich einen Text zustande, der viel konfuser war als geplant und wie mittendrin abgebrochen wirkte. In der hektischen Atmosphäre der Zeitung gelang mir nicht, meine an nächtliche Einöde und Einsamkeit gewöhnten Schreibe zu konzentrieren. Auch bitte ich für die Fehler beim Setzen um Entschuldigung.) Die „Cebelistan“[1]-Texte, die ich im Frühjahr 2011 begann und mit Unterbrechungen fortsetze, verstehe ich ohnehin als sehr langen Solidaritätsdienst.

1990er Jahre … Fünfundsiebzig Zeitungsmitarbeiter werden getötet, das Hauptgebäude der Zeitung und Niederlassungen werden mit Granaten beschossen. Polizeirazzien, Festnahmen unter Misshandlungen, Hungerstreiks, Drohungen, Verbotsurteile, schwere Haftstrafen, Hunderte, Tausende, unzählbar viele Verfahren … 2000er Jahre … Beinahe tägliche Repression, Ermittlungen, Prozesse, Konfiszierungen, Verbotsbeschlüsse, Verhaftungen, Haftstrafen … Die Zeitung, die noch vor Ablauf ihres ersten Jahres verboten wurde, zum Schließen gezwungen wurde, innerhalb weniger Monate sich aber erneut der Asche erhob, erschien notgedrungen unter verschiedenen Namen: Özgür Gündem, Özgür Ülke, Ülkede Özgür Gündem, Yaşamda Gündem, Yeni Ülke, İki binde Özgür Gündem, Demokrasi, Gelecek, Özgür Bakış, Yeniden Özgür Gündem, Gerçek, Güncel, Günlük …

Die Liste ist unvollständig, die Geschichte der Özgür Gündem ist nicht in ein, zwei Kolumnen unterzubringen. Der Geschichte der kurdischen Presse – auf Türkisch, Kurdisch und in anderen Sprachen publizierte Tages- und Wochenzeitungen, Zeitschriften, Radio- und Fernsehsender usw. – wäre höchstens in einem zwei-, dreibändigen Buch gerecht zu werden. Die Leserschaft, die dem Narrativ der Kurd*innen, ihrem Kampf um Selbstbestimmung über ihre eigene Realität, aus diesem oder jenem Grund mit Ausreden und Vorurteilen distanziert gegenübersteht, weiß vom Hörensagen vielleicht nur vom Mord an Musa Anter[2] und von der Bombardierung der Zeitung Özgür Ülke. Von fast achtzig Morden, einer frappierenden Anzahl von Verfahren, von Haftstrafen hat sie keine Ahnung, denke ich, sie ist sich nicht bewusst, dass seit vierundzwanzig Jahren für diese 16-seitige Zeitung, die an den meisten Kiosken gar nicht zu bekommen ist, hohe Preise bezahlt werden. Für genau diese Leserschaft möchte ich noch einmal unterstreichen: Sogar im „goldenen Zeitalter“ unserer Demokratie – die 2000er Jahre – stand Özgür Gündem unter dem Druck von Ermittlungen und Prozessen, von Beschlüssen zu Konfiszierung und Publikationssperren. An einem der Nullpunkte dieser Phase, die wir später vielleicht einmal als „die schrecklichen 2010er Jahre“ erinnern werden, Ende 2011, führte die Polizei zweimal Razzien bei der Zeitung durch und verhaftete auf einen Schlag sämtliche Mitarbeiter*innen. Nur ein Jahr später, als die Türkei mit über einhundert inhaftierten Journalist*innen einen weiteren ihr ganz eigenen Rekord brach, waren drei Viertel der Journalist*innen im Gefängnis Mitarbeiter*innen kurdischer Presse, Zeitungen und Nachrichtenagenturen. Bei uns saßen mehr Journalist*innen in Haft als im gesamten Rest der Welt, angesichts der internationalen Proteste schwiegen die Mainstreammedien wie üblich. Die Statements vom Staat lauteten selbstverständlich dahingehend, gegen diese Personen sei nicht wegen ihrer Journalistentätigkeit Haftbefehl ergangen … Man klammerte sich an einen einzigen Fehler auf einer Liste mit 102 Namen, wo ein Name doppelt aufgeführt war, machte einen Aufstand. Die üblichen Taktiken der Diskriminierung wurden eingesetzt, ein einziger Fehler bei einem Namen wurde als Beweis dafür angeführt, dass man den Worten der kurdischen Presse nicht trauen könne, dass sie lüge. Ignoriert wurde, dass die diskriminierte, kriminalisierte kurdische Presse in der Situation eines Opfers war, dass sie ihrer Rechte beraubt war. Ihr Bestreben, die eigene Geschichte zu erzählen, während sie in der Lage des ewigen „Schuldigen“ permanent gezwungen war, ihre Existenz zu verteidigen, wurde nicht gehört, nicht gesehen, ihr wurde nicht getraut, sie wurde von der Tagesordnung gedrängt.

Die Repressionen gegen die Medien heute schreien zum Himmel! Ermittlungen, Prozesse, Geld- und Haftstrafen … Außer den regierungsnahen gibt es keine Medien mehr, die nicht betroffen wären von wirtschaftlichen oder „rechtlichen“ Maßnahmen der Einschüchterungspolitik. Polizeirazzien, Festnahmen, Lynchattacken, physische Gewalt von Prügel bis zu Beschuss, die früher der kurdischen oder sozialistischen Presse vorbehalten waren, sind jetzt gemeinsames Schicksal aller Oppositionellen. Mit der Verhaftung ihrer kommissarischen Chefredakteur*innen schrieb Özgür Gündem bedauerlicherweise einmal mehr „Geschichte“! Hoffen wir, dass wir später, wenn wir auf diese Faschismuszeit zurückblicken, uns dieser Tage als Tage der Solidarität und des Widerstands erinnern werden. Hoffen wir es …

[1] Cebelistan (osmanisch für Gebirge, gebirgiges Gelände): gemeint sind die Kolumnen in Özgür Gündem, die sie seit April 2011 schrieb.

[2] Musa Anter (1920-1992): kurdischer Intellektueller und Publizist, der 1992 in Diyarbakır in einen Hinterhalt gelockt und ermordet wurde.


Aslı Erdoğan: Ayların en zalimi / Der grausamste Monat 08.07.2016

Meldung vom 30. Mai, Evrensel: 76. Tag der Ausgangssperre und Abriegelung von Nusaybin. Nach der Erklärung der [Selbstverteidigungsmiliz] YPS, sie habe ihre bewaffneten Kräfte abgezogen, wurden Bombardierung und Militäreinsatz noch verstärkt, der Beschuss durch Panzer und Artillerie wird verschärft. Aus den Wohnvierteln wurden 42 Personen geholt, gegen 24 erging Haftbefehl, Augenzeugen sagen, eine Vielzahl von Zivilisten sei misshandelt worden. „Die meisten, die rauskamen, waren Zivilisten, die meisten minderjährig. Sie gaben sich fürsorglich, doch anschließend misshandelten sie die Leute, Familienangehörige beobachteten, dass sie im Gewahrsam Kopf- und Armverletzungen erlitten.“

* Şırnak wurde aus Bussen beschossen, ununterbrochene Bombardierung am 76. Tag, zahlreiche Häuser in Brand gesetzt.

* In Cizre war Emrullah Er (19) von Polizei beschossen, als er mit seiner Mutter ins Cudi-Viertel unterwegs war, um den Großvater zu holen, der bis Tag 35 der Ausgangssperre das Haus nicht verlassen hatte. Da er verhaftet wurde, bevor er ärztlich versorgt werden konnte, steht zu befürchten, dass er seinen Arm verliert. „Es hieß, sie würden nicht auf die weiße Flagge schießen. Aber sie schossen und verhafteten ihn, obwohl er verwundet war.“

* Das Schicksal des DBP-Vorsitzenden der Provinz Şırnak, Hurşit Külter, ist weiter ungewiss. Die Präfektur erklärt, Külter sei nicht festgenommen worden, auf dem Twitter-Account der Sondereinsatzkommandos hingegen wurde angegeben, er werde bei TEM [Anti-Terror-Einheit] festgehalten. Vom Account BÖF[1] Tweet_Guneydogu erhielt Mahmut Külter folgende Antwort, als er in den sozialen Medien nach dem Verbleib seines Cousins fragte:

BISTDU AUCH DA DÖRFLER @KULTERMAHMUT BERUHIG DICH

HURŞİT IST IN DEN ARMEN DER TEM-BRÜDER TRÄGT SHORTS WIR HABEN IHM EIN BISSCHEN EINGEHEIZT ABER REG DICH NICHT AUF WARTE BIS DIE REIHE AN DIR IST (28 Mai 17:11)

Einen Monat später, 30. Juni: Während der Militäroperation in Lice riss der Kontakt zu 19 Dörfern und 58 Ansiedlungen ab. Der Menschenrechtsverein IHD erklärte, man sei in Sorge um das Leben der Zivilisten, alles stehe in Flammen.

* Seit 35 Tagen keine Nachricht von Hurşit Külter. Seine Mutter bezeichnet den Monat seit dem Verschwinden ihres Sohnes als „Albtraum“.

(6. Juli, Özgür Gündem) * Soldaten und SEK-Polizisten, die am Morgen des 30. Juni die Siedlung Mehla, Dorf Kerwas, Kreis Lice, abriegelten, misshandelten die 34 Dörfler, die versucht hatten, das Feuer zu löschen, Mehmet Şirin Kocakaya kam dabei um. „Sie traten auf Mehmet und seine Brüder ein, Mehmets Stöhnen hörte sogar sein gelähmter Vater in 300 Metern Entfernung. Uns alle – nur drei kleine Kinder und Mehmets Vater ließen sie zurück – steckten sie in einen BMC Kirpi und hielten uns dort fest. Zehn Minuten später kam der Krankenwagen für Mehmet. Wir fragten einen Soldaten. Der sagte: Sie haben ihn in den Krankenwagen gelegt, aber höchstwahrscheinlich ist er tot.“

* Drei Minderjährige unter den 42 Zivilisten, die in Nisebin [= Nusaybin] in Gewahrsam genommen waren, berichteten in Briefen aus dem Gefängnis von Folter. H.A. und E.T., beide 16 Jahre alt, schrieben, vor laufender Kamera würden die Soldaten Kuchen, Obst und Wasser verteilen, kaum seien die Kameras ausgeschaltet aber alles wieder einsammeln, die Kinder würden stundenlang geschlagen, die Frauen an den Haaren geschleift und Treppen hinuntergeworfen. H.A. wurde der Arm verbrannt, sein Zeigefinger gebrochen, nach Kolbenhieben steht zu befürchten, dass er ein Auge verliert. Ç.K. (16), der gefoltert wurde, obwohl er einen Bauchschuss erlitten hatte, berichtete, ihm seien, als die Kameras aus waren, die Hände gefesselt worden, dann habe man ihn über den Boden geschleift.

* Seit 41 Tagen keine Nachricht von Hurşit Külter. „Sie sollen meinen Sohn herausgeben, ob tot oder lebendig. Was haben sie mit ihm gemacht?“

Meldung von der letzten Seite: Die Kommune der Großstadtregion Wan bemüht sich in Gever um medizinische Versorgung von Haustieren. Die meisten auf der Straße lebenden Tiere wiesen Brandwunden auf, es bestehe die Gefahr von Hunger und Seuchen. Auf dem Foto ist ein Straßenhund mit pechschwarzer Nase zu sehen, der sich in ein Haus geflüchtet hatte, das nur noch ein Schutthaufen ist. Dort, unter einem Fenster, zwischen einem umgekippten Schrank und einem Stuhl, ist er gestorben. Blut oder eine Verletzung sind nicht zu sehen, möglicherweise ist er teilweise verbrannt. Am Fenster weht ein in Streifen gerissener weißer Vorhang, die Junisonne liebkost in all ihrer Pracht den Hund, der all seine Farbe verloren hat.

[1] BÖF = Bilgilendirme ve Önleme Faaliyetleri, Informations- und Präventionsaktivitäten, polizeiliche Einrichtung, die Jugendliche mit Sport u.ä. beschäftigt, um sie von „Terror-Organisationen“ fernzuhalten.


Faschismustagebuch: Heute

Ein Tag ohne Anfang und Ende, ein weiterer Tag … wie ein Komma, das stumm an seiner festgelegten Stelle ausharrt, an die zwei lange Sätze es wahllos zwischen Vergangenheit und Zukunft gesetzt haben. Zwei endlose, eintönige, einander wiederholende Sätze, die nicht aussprechen, was passiert ist, was unwiderruflich verloren ist, was wieder und immer wieder verloren gehen wird … die nicht darauf hinweisen, was nie mehr sein wird … Vergangenheit und Zukunft. Zwei kleine Worte nur, die sich in den Netzen verfangen haben, die du auf die Oberfläche dieses unbekannten Etwas geworfen hast, das man Leben nennt, und die du aus dem unermesslichen Nebel gezogen hast, der die Küsten und Wasser verbirgt. Hohl klingende Worte, die in das Gelächter der Ewigkeit ausbrechen, sobald du ihnen lauschst … Was du mit bloßen Händen finsteren Abgründen entwandst, aber deinen eisigen Fingern entglitt, war »vergangen«, noch bevor es gehoben war, der schweigende und erkaltete Schlamm deiner einzigen Vergangenheit. Aber dort, gleich einem Heer, dessen Bajonette am gegenüberliegenden Flussufer aufblitzen, bereitet sich schon das »Kommende«, unausweichlich, wie es ist, auf sein Erscheinen vor … Und mitten daraus hervorströmend Momente, Tage, das Heute, als würden sie durch einen nicht zu kittenden Riss quellen … Das Leben, das einer Wunde gleicht, die erst schmerzt, wenn das Blut gestillt ist, oder auch vielleicht einfach das Fehlen des Lebens, das nur durch Schmerz seine Existenz kundtut …

Die Tage des Massakers … Brutalität, Tränen und Blut. Diese Worte bezeichnen nun nicht mehr die Motive längst überholt geglaubter Marschmusik, der »großen Erzählungen« und Heldenepen, die keiner mehr freiwillig liest oder der unzählig oft gelesenen, gehörten, immer und immer wieder gesehenen Nachrichten, sondern Licht, Schatten und Farben unseres Alltags, die den Horizont der Wahrheit verengen und verdunkeln … Als hätten wir noch viele Worte zu machen und würde uns zugleich die Stimme versagen. Wie, wenn nicht einmal mehr dieses Schweigen, das an die Stelle echter Wehklagen getreten ist, das unsere wäre, gleichsam, als gehörte uns unsere Stimme, die so hohl klingt, wenn wir etwas erzählen, erläutern, benennen wollen, gar nicht mehr. Unser Händedruck wird immer lascher, schnell bilden wir die gewohnten Sätze und werfen sie uns immer schneller zu. Bei jeder Gelegenheit wiederholen wir aus voller Brust »in welch schlechten Zeiten wir doch leben«, wir wiederholen es und lenken uns ab. Unsere Rufe »wir leben, hier sind wir« hallen noch lange nach, sie hallen nach, finden aber kein Gehör. Wie frisch bemalte Gliederpuppen wenden wir einander unsere starren Gesichter zu, doch es ist, als könne uns niemand in die Augen sehen. Mit der Lethargie derer, die etwas schon tausendmal gesehen haben, glei­ten die gleichgültigen Blicke immerzu irgendwo anders hin, ins Leere. Die Spiegel sind unbelebter, einsamer denn je. Hohle und tote Augen, hohle und kalte Worte, erkaltete und tote Herzen. Es ist, als hätten wir eine stümperhafte Kopie von uns in die Vergangenheit, in unsere eigene Vergangenheit geschickt, aber als hätten sich die Gesichtszüge für die Zukunft einfach nicht formen lassen. Es scheint als wäre das Fehlen der einen Erscheinungsform mit dem Fehlen der anderen Erscheinungsform vertauscht worden … Wir gehen ebenso bedächtig durch diese Tage, als schlichen wir auf Zehenspitzen durch einen Krankenhausflur.

In der grauen Morgendämmerung des Fegefeuers und der Nebelschleier gehen und gehen wir unbeirrbar auf einem schmalen Pfad, der sich dahinstreckt wie eine Zunge, gehen auf einem Pfad, an den kein Wehklagen und kein Mahnen mehr dringt.

Die unerträgliche Last, in Zeiten zu leben und zu schreiben, in denen in Kellern eingeschlossene Menschen – darunter Verletzte und Kinder – bei lebendigem Leib verbrannt werden … Die entsetzliche Last der Sprachlosigkeit der Worte, Worte, die an die Stelle des Lebens treten … Dieser Abgrund ist hier wie dort, in der Vergangenheit, der Zukunft, im Heute … Wie sehr wir auch die Augen davor verschließen, wir werden den Anblick dessen, was sich in diesem beispiellosen Abgrund abspielt, nicht mehr los … Es sieht uns an mit der Stille von Erzählungen, von Sätzen, die ihr Subjekt verloren haben, mit der ewigen Stille aller Geschichten, aller Leben, die plötzlich abreißen, es lauert und dringt in der nebelhaften Unendlichkeit ganz in uns ein.

Vielleicht werden wir irgendwann einmal, wenn wir uns an diese Tage erinnern, sagen »im Grunde war nicht alles an diesem Faschismus schlecht«, während wir die tiefen Wunden einer Gliederpuppe mit neuer Farbe übertünchen.

Aus dem Türkischen von Angelika Gillitz-Acar und Angelika Hoch-Hettmann

Aus: „Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch“, Essays. Albrecht Knaus Verlag, München, 2017.