Ein Artikel von Dr. Günter Seufert
Wenn es darum geht, den 100. Geburtstag der Republik Türkei zu feiern, bringt für viele türkische Demokraten in Deutschland das „aber“ ihre Gefühle auf den Punkt. Es zog sich deshalb am 29. Oktober, dem Jahrestag der Republik, wie ein roter Faden durch die Gedenkveranstaltung des KulturForums Türkei Deutschland in Köln.
Von einer „ganz anderen Feier zum 100. Jubiläum“ sprach ein türkischer Journalist tags darauf in der liberalen Istanbuler Zeitung BirGün. Eine Feier ohne türkische Diplomaten und ohne offizielle Grußadressen aus Ankara. Ohne Siegesreden und Durchhalteparolen, ohne die Beschwörung des Türken- und Muslimentums und ohne Schreckensbilder von eingeschworenen Feinden der Republik, ohne die heute in der Türkei selbst keine offizielle Feierstunde auskommt. Stattdessen nachdenkliche Zwischentöne, Gedanken darüber, was gut und was schlecht gelaufen ist in den letzten 100 Jahren. Und auch ein Stück Verzweiflung, weil sich so schnell wohl wenig ändern wird.
Denn auch nach 100 Jahren Republik ist die Türkei kein Rechtsstaat. Noch immer ist sie primär ein Staat der ethnischen Türken und benachteiligt die Sprecher anderer Muttersprachen, primär die Kurden. Und zunehmend versteht sie sich ausschließlich als Staat einer rein muslimischen Nation. Zwar ist sie das wirtschaftliche Powerhouse ihrer Region und dort auch die stärkste Militärmacht. Doch große Teile der Bevölkerung verarmen, und die hohe Schlagkraft der türkischen Armee hat nicht dazu geführt, dass sich die Bewohner der Türkei heute sicherer fühlen als früher.
Von einem Gefühl „tiefer Enttäuschung“ sprach in Köln Hasan Cemal, einer der renommiertesten Journalisten der Türkei. Mit der Ausrufung der Republik habe Staatsgründer Kemal Atatürk vor 100 Jahren das Sultanat abgeschafft, doch unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan bewege sich das Land auf die moderne Version einer Sultansherrschaft zu.
Als Angehörige einer „politisch geschlagenen Generation“ bezeichnete sich die Soziologin Oya Baydar, die wie Hasan Cemal schon seit fast 60 Jahren für mehr Demokratie kämpft. Doch auch die Jüngeren zeigten sich in Köln wenig optimistisch. So beispielsweise der Journalist und Dokumentarfilmer Can Dündar, der seit sieben Jahren in Deutschland im Exil lebt. Er wisse nicht, ob er jemals zurückkehren könne, sage er in Köln und erinnerte an andere berühmte türkische Exilanten wie den Poeten Nazım Hikmet, der in Moskau begraben liegt und den Sänger Ahmet Kaya, der in Paris bestattet ist. Erdoğan kontrolliere die Medien, die Polizei und die Justiz und er genieße internationale Unterstützung. Wie könne da eine Mehrheit zustande kommen, die ihn abwählt?
Als Angehörige einer „politisch geschlagenen Generation“ bezeichnete sich die Soziologin Oya Baydar, die wie Hasan Cemal schon seit fast 60 Jahren für mehr Demokratie kämpft. Doch auch die Jüngeren zeigten sich in Köln wenig optimistisch. So beispielsweise der Journalist und Dokumentarfilmer Can Dündar, der seit sieben Jahren in Deutschland im Exil lebt. Er wisse nicht, ob er jemals zurückkehren könne, sage er in Köln und erinnerte an andere berühmte türkische Exilanten wie den Poeten Nazım Hikmet, der in Moskau begraben liegt und den Sänger Ahmet Kaya, der in Paris bestattet ist. Erdoğan kontrolliere die Medien, die Polizei und die Justiz und er genieße internationale Unterstützung. Wie könne da eine Mehrheit zustande kommen, die ihn abwählt?
Noch deutlicher wurde der deutsche Journalist Deniz Yücel, der wegen seinerBerichtserstattung knapp ein Jahr lang in der Türkei inhaftiert war. Er meinte, man müsse der Tatsache ins Auge sehen, dass eine – wenn auch knappe – Mehrheit, sich von Erdoğan vertreten fühle und sowohl seine Ressentiments gegen den Westen als auch seine Aversion gegen die politische und kulturelle Gleichheit aller Staatsbürger teile. Druck aus dem Ausland, sei es nun von Regierungen, Investoren oder der Zivilgesellschaft, werde wohl daran wenig ändern. Es gelte, einen schwierigen Balanceakt zu meistern, nämlich dem Land ein Partner zu sein, ohne sich zum Komplizen Erdoğans zu machen.
War dieser Gang der Dinge wirklich unvermeidbar? Hätte sich die Republik, die 1923 nach dem Ersten Weltkrieg gegründet wurde, unter den damaligen Verhältnissen anders, nämlich liberaler und demokratischer entwickeln können? Oder hat der Kampf um Anatolien, den die türkische Militärelite nach dem Ersten Weltkrieg gegen griechische Invasoren, armenische Gebietsansprüche und dem Wunsch der Kurden nach politischer Autonomie geführt und gewonnen hat, die junge Republik ganz automatisch auf ein autoritäres Gleis gesetzt? Auf ein Gleis, das nur zu unduldsamen Nationalismus und einem kompromisslosen Kommandostaat führen konnte.
Ob nun vermeidbar oder nicht, Oya Baydar machte als einen „Geburtsfehler“ der jungen Republik aus, dass sie nur die ethnischen Türken und die sunnitischen Muslime als vollwertige Staatsbürger betrachtete und damit Demokratie, die auf politischer Gleichheit fußt, unmöglich machte. Der kurdische Politiker Ziya Pir wies darauf hin, dass Dinge wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, ethnischer und religiöser Pluralismus sowie Toleranz nicht zu politischen Prinzipien von Atatürks Partei zählen, die in den ersten Jahrzehnten die offizielle Ideologie der Republik bestimmten. „Die Gene der Republik sind sehr stark“, zitierte Christiane Schlötzer, die lange als Korrespondentin in der Türkei gelebt hat, eine türkische Wissenschaftlerin und meinte, bisweilen seien die Gene der Republik zu stark. Es gebe noch immer zu viel Dirigismus, Zentralstaat und Nationalismus. Es habe zu lange zu viel Vertrauen in das Militär gegeben und zu viel Ausgrenzung der Religion, was nur dazu geführt habe, dass der Islam heute politisiert ist.
Hasan Cemal verwies auf die unzureichende Statur vieler Politiker des Landes. Dreimal habe das Militär per Staatsstreich Regierungen hinweggefegt. Nicht einmal hätten sich die politischen Parteien gemeinsam dagegen ausgesprochen, geschweige denn gewehrt. Noch immer schrecke in der Türkei die Politik davor zurück, auch gegen Widerstand in der Gesellschaft die dunklen Seiten der eigenen Geschichte zu benennen. Welche Politiker spräche von der Vernichtung der Armenier, von der Vertreibung der Griechen Istanbuls, von der Kolonialisierung der kurdischen Region Dersim und von den Zwangsumsiedelungen der Kurden?
Cemal erinnerte an Willy Brandt, dessen Kniefall in Warschau damals auch von einer Mehrheit der Deutschen nicht gutgeheißen worden war. Cemal verteidigte auch den eisernen Willen des Republikgründers. Ohne Atatürks entschlossenes Vorgehen, etwas bei der Modernisierung des Zivilrechts, hätte es in der Türkei weder eine Säkularisierung noch eine Gleichheit der Frauen vor dem Gesetz und politische Rechte der Frauen gegeben.
Hier stimmte ihm Lale Akgün, Kölner Psychologin und frühere Bundestagsabgeordnete, bei. Daran ändere auch nichts, meinte sie, dass viele Frauen treue Wählerinnen des Staatspräsidenten sind, was Akgün mit einer psychologisch nachvollziehbaren Verschiebung von unterdrückter weiblicher Libido erklärte. Die Türkei sei aber ohnehin ein Land der Widersprüche, meinte sie. Ein Land, in dem die Arrivierten der CHP, die sich als eine sozialdemokratische Partei definiert, und die Bedürftigen und Deklassierten der wirtschaftlich neoliberalen Partei Erdoğans ihre Stimme geben.
Bedrückt über die Entwicklung in der Türkei zeigte sich auch Edzard Reuter, früherer Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG und Sohn des ehemaligen Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter. Edzard Reuter ist gleich zweimal mit der Türkei verbunden, beruflich und familiär. Beruflich, weil Daimler in der Türkei seit langem ein Großinvestor ist und familiär, weil er in der Türkei aufwuchs. Sein Vater, Mitglied und Funktionär der SPD, emigrierte während der Zeit des Nationalsozialismus‘ ins türkische Exil, wo er an der neu gegründeten Universität Stadtplanung unterrichtete.
Reuters Einladung angeregt hatte Cem Özdemir, grüner Bundeslandwirtschaftsminister und wohl erfolgreichster Politiker mit türkischen Wurzeln in der Bundesrepublik. Der Dialog der beiden Männer machte deutlich, welch wirtschaftliches und politisches Potential in der Beziehungen Deutschlands mit der Türkei steckt, aber auch wie groß heute die Hindernisse dafür sind, dass dieses Potential realisiert wird. Wie krass sich die politische Gemütslage in beiden Ländern unterscheidet, trat deutlich in der Rede von Cem Özdemir zutage. Der Grüne geißelte die Hamas, die Erdoğan nur zwei Tage vorher als Befreiungsorganisation gelobt hatte und nicht als Terrorverein bezeichnen will. Nachdenklich zeigte sich auch hier Oya Baydar, die es vermied, in Schwarz und Weiß zu malen. „Die Welt ist heute drauf und dran, ihr Gewissen zu verlieren“, sagte Baydar mit Blick auf beide Seiten.
Eine weithin vernehmbare Stimme eines demokratischen türkischen Gewissens in Deutschland ist auch Osman Okkan; der Gedankengeber, Initiator und Motor des KulturForums Türkei Deutschland, das zeitgleich mit dem 100. Jahrestag der Republik Türkei sein 30-jähriges Bestehen feierte. Okkan hat mit einem kleinen, weitgehend ehrenamtlichen Team in den letzten 30 Jahren den Versuch unternommen, den Deutschen verschiedene Facetten der türkischen Kultur nahezubringen: ihrer Literatur, ihrer Musik und ihrer Filme. Damit hat das KulturForum mit beispielhaften Projekten wie Filmfestivals, gemeinsame Kunst- und Kulturaktionen mit deutschen, griechischen, kurdischen und armenischen Kulturschaffenden wesentlich zur Akzeptanz der Menschen aus der Türkei hier beigetragen.
Das konsequente Engagement des KulturForums für die verfolgten Demokraten der Türkei, für Gewerkschafter, Politiker, Schriftsteller, Journalisten und Filmemacher hat ihm auch unter den fortschrittlichen Kreisen der Türkei große Anerkennung verschafft. Wie sehr auch die deutsche Seite Okkans Wirken im KulturForum für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Völkerverständigung und Kulturaustausch würdigt, zeigte sich bereits vor einigen Jahren an der Verleihung desBundesverdienstkreuzes. Auf der Veranstaltung würdigte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) Okkan per Videobotschaft. Die stellvertretende Vorsitzende des Landtags NRW, Berivan Aymaz (Grüne), war gar persönlich anwesend und hob ebenfalls das Ringen des KulturForums für die Rechte der Minderheiten auch in der Türkei hervor.
Kein „aber“ also, beim Glückwunsch für den Geburtstag des KulturForums Türkei Deutschland, dessen Arbeit scheint wohl heute so wichtig zu sein, wie in den vergangenen drei Jahrzehnten. Vielleicht sogar noch mehr. Denn nicht nur in der Gesellschaft der Türkei vertiefen sich die Gräben – auch in Deutschland. Der Streit um die Zukunft der Flüchtlingspolitik, das Ringen um die ethisch richtige Einstellung zum Krieg im Nahen Osten, Antisemitismus hier und wachsende Xenophobie dort werden sowohl die türkischen als auch die deutschenDemokraten auf eine harte Probe stellen.
Dr. Günter Seufert
Bilder: Klaus R. Müller, Creative Commons (Lizenz CC BY-SA 4.0)