Editorial November

14.11.2022 | Infomail

Liebe Freundinnen und Freunde des KulturForums,

Bei einem Terroranschlag am Sonntag in İstanbul wurden mindestens sechs Menschen getötet und zahlreiche weitere Passanten verletzt. Der türkische Innenminister Soylu hat – letzter Stand bei Redaktionsschluss – die weitgehend in Nordsyrien operierende kurdische PYG zum Urheber erklärt. Die mutmaßliche Attentäterin wurde festgenommen; über 20 weitere Personen sollen unter dem Verdacht der Komplizenschaft in Polizeigewahrsam sein. 

Nicht ausgeschlossen, dass dieser Anschlag auch den Anlass liefert für eine weitere Militäroperation in Nord-Syrien. Unbestritten ist, dass solche Auslandseinsätze von nationalistischen Kampagnen begleitet werden, die die Wähler zur “Einheit“ gegen die inneren und äußeren Feinde treiben sollen – in erster Linie in den Reihen der regierenden AKP.

Der Terroranschlag wurde von allen Oppositionsparteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen umgehend scharf verurteilt; ebenso von der prokurdischen Partei HDP und ihrem ehemaligen, inhaftierten Vorsitzenden Selahattin Demirtaş

Diskussionen um die Rechte kopftuchtragender Frauen sind in der Türkei vor allem nach den Aufständen im Iran weiterhin auf der gesellschaftspolitische Agenda. Nach einem Vorschlag von der Oppositionspartei CHP, die Möglichkeit auf das Tragen eines Kopftuchs in öffentlichen Ämtern auch gesetzlich zu verankern, nahm sich die AKP des Themas an und verband es mit den eigenen familienpolitischen Vorstellungen. Starke Familien bedeuteten auch eine starke Nation, sagte Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf einer Veranstaltung in Antep, und unterstrich, dass diese Stärke nur durch eine Heirat von Mann und Frau entstehen könne.

Zuletzt kündigte die AKP an, in einer Verfassungsänderung die „traditionelle Familie“ stärker schützen zu wollen. Bislang gab es noch keine konkrete Änderungsvorlage, doch LGBTIQ-Gruppen befürchten, dass sie im Vorfeld der Wahlen 2023 zum Ziel einer Kampagne der AKP-Regierung werden könnten. 

Zuletzt kündigte die AKP an, in einer Verfassungsänderung die „traditionelle Familie“ stärker schützen zu wollen. Bislang gab es noch keine konkrete Vorlage, doch LGBTIQ-Gruppen befürchten, dass sie im Vorfeld der Wahlen 2023 zum Ziel einer Kampagne der AKP-Regierung werden könnten. In den letzten Wochen kam es bereits zu einigen Anti-LGBTIQ-Demonstrationen in türkischen Großstädten. Einem aktuellen Bericht der EU Kommission zufolge, entsprechen die türkischen Anti-Diskriminierungsrichtlinien nicht europäischen Standards und würden Menschen aus LGBTIQ-Gruppen nicht ausreichend schützen.

Für die angestrebte Verfassungsänderung benötigt das Bündnis aus MHP und AKP allerdings auch Stimmen aus der Opposition. Justizminister Bekir Bozdağ traf sich mit Vertretern aller Parteien im Parlament – auch der prokurdischen HDP. Während die AKP-Regierung ansonsten keine Gelegenheit auslässt, der HDP Terror-Unterstützung vorzuwerfen, galt sie in öffentlichen Aussagen nun als legitime Interessensvertretung, die von Millionen Menschen gewählt worden sei. Derweil befindet sich die HDP aktuell weiter in einem Verbotsverfahren vor dem Verfassungsgericht, das maßgeblich von der AKP vorangetrieben wurde. Der Wahlkampf ist im vollen Gange. 

 Foto: Pınar Çetinkaya/Evrensel