Liebe Freundinnen und Freunde des KulturForums,
Sechs Wochen nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien herrscht weiterhin Ausnahmezustand in der Region. Vielen Menschen fehlt es immer noch an Übernachtungsmöglichkeiten, grundlegenden Hygieneprodukten und Lebensmitteln. Starkregen in den Provinzen Adıyaman und Şanlıurfa verschlechterten die Lage; bei Sturzfluten kamen 15 Menschen ums Leben. Angesichts der großen Spendensummen aus In- und Ausland wächst die Kritik an den staatlichen Organisation die für die Hilfe und der Unterbringung der betroffenen Menschen zuständig sind. Nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen haben aktuell zwischen 2 bis 3,5 Millionen kein festes Dach über dem Kopf.
Ungeachtet dessen schreiten die Planungen für die Wahlen voran. Präsident Erdogan hat per Dekret Neuwahlen angeordnet und den 14. Mai als Datum für den ersten Wahldurchgang erkoren. Dabei gibt es Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner erneuten Kandidatur. Verfassungsrechtlern zufolge, hätte Erdoğan nur dann abermalig antreten dürfen, wenn das Parlament seine Auflösung beschlossen hätte. Auf der Suche nach weiteren Koalitionären schreckt die AKP auch nicht vor rechtsextremistischen Gruppierungen zurück. Jüngst wurden Gespräche mit der HÜDA PAR Partei bekannt, die vornehmlich im kurdisch geprägten Teil der Türkei aktiv ist und mit der radikal-islamistischen Hizbullah in Verbindung gebracht wird.
Nach einem turbulenten Monat ist zumindest klar, wen die Opposition aufstellen wird. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu tritt als gemeinsamer Kandidat des sogenannten Nationalbündnisses an. An seiner Seite stehen die beiden populären Bürgermeister aus Istanbul und Ankara, Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş, die als stellvertretende Präsidenten ins Rennen gehen. Die bisherigen Umfragen zeichnen kein einheitliches Bild, der Opposition werden jedoch gute Chancen eingeräumt. Viel wird auch davon abhängen, welchem Lager sich die übrigen Parteien anschließen werden. Die pro-kurdische HDP etwa erreicht bei Umfragen mehr als 11 Prozent und könnte somit zum entscheidenden Faktor werden – wenn sie zur Wahl zugelassen werden sollte.
In den kommenden Wochen tritt der Wahlkampf in die heiße Phase. Dabei kristallisiert sich heraus, dass die Folgen des Erdbebens und die anhaltende wirtschaftliche Krise die entscheidenden Themen bleiben. Außenpolitische Manöver Erdoğans, wie aktuell die Weigerung, Schweden den Eintritt in die NATO zu ermöglichen, verpuffen angesichts des menschlichen Leids vor Ort in der Türkei. Die Opposition kämpft dabei mit ungleichen Mitteln in der Öffentlichkeit – ein Großteil der Medien steht der Regierung nah und aktuell gilt in der Erdbebenregion der Ausnahmezustand. Und dennoch: die Hoffnung auf einen politischen Wandel ist aktuell so groß wie seit Jahren nicht mehr.
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