Editorial Februar 2024

14.02.2024 | Infomail, Newsletter

Liebe Freundinnen und Freunde des KulturForums,

herrschte vor den letzten Wahlen in der Türkei noch so etwas wie Aufbruchstimmung, sieht es bei diesen Kommunalwahlen ganz anders aus – die Opposition zeigt sich gespalten und streitsüchtig. Aktuell ist nicht abzusehen, wie die ersten Wahlen der CHP unter ihrem neuen Vorsitzenden Özgür Özel ablaufen werden. Gerade in den Großstädten wären Stimmen aus dem Kreis der anderen Oppositionsparteien für den Erfolg bitter nötig. Doch die nationalistische IYI-Partei schießt öffentlich gegen Özel und tritt an vielen Orten mit eigenen Kandidaten an, gleiches gilt auch für die kurdisch-progressive DEM, der Nachfolgepartei der HDP.

Neben Selahattin Demirtaş, Gültan Kışanak, Osman Kavala gehört Can Atalay zu den prominenten politischen Gefangenen. Sein Fall wirft dunkle Schatten für die bevorstehenden Wahlen auf. Mit den Mehrheitsstimmen der AKP und MHP wurde ihm im Parlament sein Mandat entzogen worden – und damit auch seine Immunität. Die Regierungsparteien folgten einem umstrittenen Urteil des obersten Berufungsgerichts, das sich gegen die angeordnete Freilassung Atalays durch das Verfassungsgericht gestellt hatte. 

Der Anwalt Can Atalay wurde im Zuge der Gezi-Prozesse zu einer Haftstrafe verurteilt, genoss aber als gewählter Abgeordneter parlamentarische Immunität. Für die oppositionellen Kräfte des Landes ist dies ein weiteres Zeichen dafür, dass selbst politische Ämter und juristische Schranken nicht vor Verfolgung schützen.

Umso bitterer: Can Atalay übte sein Mandat für den Wahlkreis Hatay aus, einem der Epizentren des verheerenden Erdbebens von 2023. Ein Jahr nach dem Unglück ist die Situation weit weg von Normalität, in Teilen der Region leben die Menschen weiterhin in Provisorien – von den durch die Regierung versprochenen Soforthilfemaßnahmen ist vor allem in den von Kurden, Aleviten, Armeniern und anderen Minderheiten bewohnten Gegenden wenig zu sehen. Stattdessen verdichten sich die Befürchtungen, dass die Korruption im Bauwesen und mangelnde Krisenvorbereitung, die zu dem Ausmaß der Katastrophe beigetragen haben, sich bei Wiederaufbau wiederholen. So werden teilweise wieder lukrative Neubaugebiete ausgewiesen und auch mit dem Abtransport von Trümmern Gewinne gemacht. Während es schon zahlreiche Verfahren gegen Bauunternehmer gibt, wurden bislang keine Prozesse gegen Lokalpolitiker eröffnet.

Präsident Erdoğan schob derweil die Schuld der Kommunalverwaltung zu und sagte, dass die aktuelle Misere eben entstehe, wenn die lokale und die zentrale Regierung nicht Hand in Hand arbeiten würden. Angesichts der anstehenden Kommunalwahlen war die Drohung dahinter klar zu erkennen: Wenn die Bevölkerung Hatays keinen AKP-Bürgermeister wählt, wird sie wohl auch weiterhin keine umfassenden Gelder von der Zentralregierung erwarten dürfen. Der Region wurde bislang nur wenig Aufmerksamkeit von der Regierung zuteil. Ihre Jahrhunderte alte Geschichte vom friedlichen Zusammenleben von Menschen verschiedener Völker und Religionen, passt nicht zum polarisierenden Kurs der AKP.

Umso wichtiger ist in diesen Tagen, dass die Menschen in den betroffenen Gebieten unsere Solidarität erfahren. Am 5. Februar fanden sich dazu über 700 Menschen in der Kölner Flora ein um mit Musik und Vorträgen auf die aktuelle Situation aufmerksam zu machen und Spenden zu generieren.

Bleiben wir weiter solidarisch: Mit den politischen Gefangenen in der Türkei, und auch mit den Opfern des Erdbebens!


© KulturForum