Liebe Freundinnen und Freunde des KulturForums,
das Ende der Assad-Herrschaft in Syrien beherrscht die Schlagzeilen in der Türkei, die eine 900 Kilometer lange Grenze mit dem Land hat. In Städten mit großen syrischen Communities wie Gaziantep kam es zu spontanen Demonstrationen, bei denen die Menschen den Sturz des verbrecherischen Regimes in Damaskus feierten. Im gegenwärtigen Chaos ist noch nicht abzusehen, was die syrische Bevölkerung als Nächstes erwartet – doch die Türkei gilt schon jetzt als Nutznießerin der Situation. Einigen politischen Beobachtern zufolge hatte die türkische Regierung in Ankara grünes Licht für den Vormarsch auf Aleppo gegeben, an dem auch die von der Türkei protegierte SNA (Syrische Nationalarmee) maßgeblich beteiligt war. Die Regierung von Präsident Erdoğan hegt seit längerem Pläne, einen Teil der aufgenommenen Flüchtlinge – derzeit suchen mehr als dreieinhalb Millionen Menschen im Land Schutz – in dem von ihr kontrollierten Teil Syriens anzusiedeln.
Dass die Regierung in Ankara andere Prioritäten als das Wohl der syrischen Bevölkerung haben dürfte, wurde durch ein Zitat des MHP-Vorsitzenden Devlet Bahçeli deutlich. Er verkündete, dass Aleppo „bis ins Mark türkisch, muslimisch“ sei – und ignorierte dabei die jahrhundertealte multikulturelle und multireligiöse Geschichte der Provinz. Nach dem Sturm auf Aleppo startete die von der Türkei unterstützte SNA eine Offensive im Nordosten des Landes und rückte unter anderem auf Manbidsch vor, das von kurdischen Milizen gehalten worden war. Tausende Menschen flohen daraufhin tiefer in die kurdische Autonomieregion, die der türkischen Regierung ein Dorn im Auge ist. Bereits in den vergangenen Monaten hatte es dort zahlreiche Angriffe der türkischen Luftwaffe gegeben, bei denen auch zivile Ziele getroffen wurden. In der Türkei protestierte die prokurdische DEM-Partei gemeinsam mit anderen kurdischen Organisationen in Ankara, Istanbul und Urfa gegen die Offensiven der islamistischen Truppen und warnte vor einer neuen islamistischen Terrorherrschaft in Syrien.
Die aktuelle Situation in Syrien lenkt vom Vorgehen der Regierung in Ankara gegen die demokratischen kurdischen Kräfte in der Türkei ab. In den letzten Wochen wurden weitere gewählte Politikerinnen und Politiker durch Zwangsverwalter ersetzt und verhaftet. In einer groß angelegten „Anti-Terror-Operation“ wurden in 30 Bezirken mehr als 200 Menschen verhaftet, darunter zehn Journalisten, ein Bezirksbürgermeister der DEM-Partei in Diyarbakır und weitere Menschenrechtsaktivistinnen. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Stadt Van im Südosten des Landes. Hier hatte der DEM-Politiker Abdullah Zeydan die Bürgermeisterwahlen am 31. März gewonnen, sein Sieg wurde jedoch von der Wahlkommission zunächst nicht anerkannt. Nach großen landesweiten Protesten und einem erfolgreichen Einspruch konnte Zeydan sein Amt doch noch antreten. Nun hat das Kassationsgericht den Einspruch aufgehoben – und es ist unklar, wie es weitergeht.
Die Angst der Regierung vor einer aktiven Zivilgesellschaft zeigt sich in Istanbul jedes Jahr am 25. November, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Eine von mehreren feministischen und progressiven Organisationen und Parteien angekündigte Demonstration wurde im Vorfeld von der Bezirksregierung in Istanbul verboten. Mehrere Hundertschaften gepanzerter Polizei verwandelten das Gebiet um den Taksim-Platz in eine Hochsicherheitszone, der U-Bahnbetrieb wurde für mehrere Stunden ausgesetzt. Trotzdem versuchten die Protestierenden ihre Demonstration durchzuführen und skandierten den international gewordenen kurdischen Slogan „Jin, jiyan, azadî“, um für ihre Rechte einzutreten. Nach Angaben der Istanbuler Anwaltskammer kam es bei den Protesten zu mehr als 150 Festnahmen.
Foto: Gazete Oksijen – Jubelnde Menschen nach dem Sturz von Assad in der Türkei