Voller Fäulnis und Unrat…
Das Feuer, das die Welt bedroht
I
Einen Großteil meiner Kindheit verbrachte ich bei meiner Großmutter väterlicherseits. Sie wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren und führte ein sehr bescheidenes Leben – auch wenn ihre Bedürfnisse auf das Nötigste beschränkt blieben – außerdem auch ein glückliches. Zehn Söhne und drei Töchter brachte sie auf die Welt. Eine Frau, die den Ehemann in ihren Vierzigern verlor und auch drei Töchter zu Grabe tragen musste, zwei Töchter lange vor dem Heiratsalter und eine kurz nach der Geburt ihres Kindes.
Meine Großmutter war ein Kind einer Region, die noch immer an den Wunden des Osmanisch-Russischen Krieges von 1877/78 litt und später für etwa vierzig Jahre bis zur Oktoberrevolution 1917 besetzt blieb. Sie war eine Zeitzeugin des Befreiungskriegs. Jenes Krieges, der die Errichtung der Türkischen Republik im Schatten des Balkan- und des Ersten Weltkriegs einleitete.
Zu den Nachbarn meiner Großmutter zählten Russen, Armenier, Griechen, Kurden, Lasen und genauso Aserbaidschaner, Molokanen, Tscherkessen und viele andere Völker. Immer wenn sie von ihren früheren Nachbarn sprach, bekam ihre Stimme stets einen wohligen Klang und ihre Augen leuchteten gleich Sehnsucht und Heimweh.
Sie kannte den Verlust gut. Sie wusste, was es bedeutete, einen Verlust erleiden zu müssen. Sie war ja ein Mitglied jener „erhabenen Menschheitsfamilie“, die einst Nâzım Hikmet beschrieb. Sie lebte fern von Macht und Gier, aber mit der Natur und ihren Kreaturen in Frieden, fühlte sich mit ihnen eng verbunden. Sie gehörten zu jenen Menschen, die sich mühten, die Welt zu bereichern und sie zu verbessern.
Wie jedes andere menschliche Individuum auch, das tief in sich eine menschliche Wärme empfinden konnte, repräsentierte meine Großmutter eben nicht den zerstörerischen, sondern den erschaffenden Geist des edlen Menschengeschlechts. Obwohl sie und mit ihr unzählige andere Opfer von Feudalismus und Ausbeutung, bzw. Unterdrückung und Erniedrigung war, konnte sie sich noch immer auf ein dürftiges Mahl aus Zwiebeln freuen. Ohne jede Theatralik wusste sie – uns, ihr Enkel genauso wie ein sanftes Tier – zu streicheln und zu trösten, uns ihre mütterliche Liebe zu schenken.
Ganz gleich, welchen Kampf sie gegen die Widrigkeiten und Herausforderungen der Natur führte, er war zunächst auf den Verlust ausgerichtet. Einen solchen litt und empfand sie, wenn z.B. die Weizenaussaat, die sie Wochen und Monate unter größten Anstrengungen pflegte und hegte, die Ernte, die sie ja später ein ganzes Jahr lang ernähren sollte, wenn die Fluten eben all dies zerstörten; oder auch wenn ihre Hühner und ihr Gedeihen, die ihre Träume und Hoffnungen schmückten, eine entsetzliche Seuche hinwegraffte. Sie lernte auch zu gewinnen. Zu gewinnen lernte sie, als sie ausgerechnet ihren Großvater in einem Krieg, ihren Vater in einem anderen Krieg und ihren Onkel wieder in einem anderen Krieg zu Grabe trug. Zu gewinnen lernte sie, als sie immer laut um Frieden rief, in Frieden lebte. Deswegen lebte sie, ganz gleich welche Muttersprache ihre Nachbarn sprachen, zu welchem Volk sie zählten, welche Hautfarbe sie trugen, mit allen in Frieden und Eintracht. Sie war ein Mensch, der die Schmerzen ihrer Nachbarn in ihrem Herzen nachempfand, sie stets als Freunde ansah.Und sie wusste, dass für die Kriege in der Welt, nicht jene „erhabene Menschheitsfamilie“ verantwortlich war. Diese Kriege wurden gelitten, weil dieses Sterben Rüstungsunternehmer, Drogenpaten, dunkle Kreise, die die Demokratie und die Menschenrechte ablehnten oder Machthaber, die sich von Unruhe und Chaos nährten und durch sie organisierten.
Meine Großmutter wuchs in einer großartigen Kultur der Hoffnung auf, jene große Sehnsucht der Menschheit, dass die „Zweiundsiebzig Völker“ der Welt eines Tages in Frieden miteinander leben würden. In einer matriarchalischen Kultur – ihren Vater hatte sie früh verloren – gelang es ihr bei jeder Entscheidung, die die Familie betraf, die Umwelt zu integrieren. Im Heim meiner Großmutter, wo ich das Licht der Welt erblickte, mit deren Märchen ich meinen Gedankenhorizont weiter zog, wurde jede Saat der Erde zunächst mit Gebeten an allem, das kriecht und fleucht, übergeben und dann Fürbitte für die Nachbarn gehalten. Erst ganz zum Schluss beteten wir für „uns“ selbst. Wenn der Winter kam und die Erde schneebedeckt da lag, stellten wir für die Tiere von Wald und Flur zu fressen vor die Tür. Danach wurde von dem Wenigen, das wir so mühsam erarbeitet hatten, auch an die noch bedürftigeren Nachbarn gereicht. Je mehr wir teilten, desto mehr wuchsen wir. Was wir teilten, war nicht die Armut, sondern die Kraft und die Anstrengungen, unser gemeinsames Schicksal zu ändern. Deswegen wuchsen wir mit dem Teilen, wir wurden größer. Unser Leid aber wurde kleiner, unsere Freude nahm zu. Wir trugen den Krieg weiter in die Welt hinaus, weil wir unsere Liebe für die Natur einbüßten.
Erde und Krume, Baum, Vögel, Katze und Hund, Schildkröte und Schlange, als wir die Welt nicht mehr aus der Perspektive betrachteten, nämlich dass jede Kreatur, wirklich jedes Leben ein Lebensrecht besitzt. Ein Mensch, der angesichts ihrer Vernichtung nur schwieg, eben ein stummer Zeuge blieb, konnte sich nicht mehr davor bewahren, der Größe dieser Schuld zu erliegen, als der Kelch auch zu ihm kam.
II
Bedauerlicherweise wird die Welt durch die infamen und inkompetenten Politiker unseres Jahrhunderts, die ihren Anspruch auf die intolerante alleinige Wahrheit als einen politischen Ausweg betrachten, an den Rand eines Abgrunds getragen. In jedem Bereich des politischen und gesellschaftlichen Lebens wird das Recht zur Macht und so in despotische Strukturen verwandelt. Hierzu werden Kommunikationskanäle und Medien missbraucht, leider muss ich feststellen, auch die Literatur, auch die Kunst.
Die Gewalt wird, als das wichtigste Instrument einer imperialistischen Ausbreitung und einer globalen Bedrängung, immer weiter in alle Lebensbereiche hineingedrängt. Längst ist es nicht mehr das Streiten von Individuen, eines jeden von uns, sich an das Leben zu klammern, zu bestehen. Die brutale und unbarmherzige Rivalität der kapitalistischen Länder ist zu einem globalen Kampf angewachsen. Nämlich ein Kampf, die Ressourcen der Welt auszubeuten und diese auf solch Weise zu vernichten. Das unkontrollierte Streben, durch fortschreitende Rationalisierung und Automatisierung die Produktionskosten stetig zu senken, führt nicht nur bei den durchschnittlich Ausgebildeten, sondern auch unter den höher Ausgebildeten und Leistungsfähigen zu einer frustrierenden Arbeitslosigkeit. Diese Entwicklung ist keineswegs auf eine bestimmte Region beschränkt, vielmehr ist sie zu einer weltumspannenden Not geworden. Ewige Arbeitslosigkeit und das Gefühl, unnütz zu sein, sind Gefühlszustände, die sowohl junge Leute in Pakistan als auch in der Türkei, in Südkorea oder den USA gleichermaßen frustrieren.
Die Menschheit muss sich von dieser irrsinnigen Konsumsucht und Konsumwut befreien. Gesellschaften, die ihre Konsumgier nicht zu beschneiden wissen, die beschneiden dadurch auch ihre Zukunft; doch nicht nur die eigene, sondern die Zukunft der gesamten Menschheit. Dies dürfen wir niemals vergessen.
Das unverzichtbare Element einer jeden Demokratie, nämlich der pluralistische Geist des Regierens, wird jeden Tag weiter sinnentleert und der Traum der Menschen nach Gleichheit und Freiheit allmählich zerstört.
Die Gewalt ist in jeder Gesellschaft, die von Despotismus und einer vermeintlichen einzigen Wahrheit bestimmt wird, zeigt sich als die schwärende, kranke Wunde der Menschheit. Die Welt hat in den Zwängen des imperialistischen Zeitalters den Krieg zu einer kulturellen Qualität verändert.
Mit ihren Kinofilmen, ihrer Pseudo-Literatur, mit ihren Spielzeugen und ihren elektronischen Spielen, mit ihren Ernährungsgütern und ihren unterschiedlichsten Konsumzügen leben sie unter dem Druck der Industrialisierung den Krieg als Kultur aus. Die Menschheit steht heute vor einer noch schwierigeren und gewaltigeren Herausforderung.
Leider wird unsere Epoche, statt dieser düsteren Entwicklung Einhalt zu gebieten, durch Regime und Regierungen, die sich durch antidemokratische Verständnisse und Begriffe etablieren konnten, noch tiefer in das Chaos hineingetragen.
III
Die Natur bietet allen Lebewesen eine Lebenschance. Rücksichtslos vernichtet der Mensch die Natur. Er baut immer mehr Großstädte, deren Gassen und Straßen ersticken. Auf diese Weise vernichtet er nicht nur sich selbst, sondern fügt auch anderen Teilen der Natur unheilbare Wunden zu. Durch den unkontrolliert wachsenden Konsumdrang trug das egalitär ausgerichtete Lebensprinzip tiefe Wunden davon. Ein Prinzip, das von der Feldmaus, die unter der Erde mit Zusammenhalt sich fest an das Leben krallt; der Raupe, die sich an einem Blatt schmiegt; dem Adler, der hoch am Himmel treibt; bis zu einem Tannenzapfen reicht und allem, das lebt, einen entsprechenden Lebensraum bietet.
Der Krieg wurde nicht nur mit Waffen, Kanonen und Raketen zur Kultur erklärt, sondern auch mit einem aggressiven Menschenmodell, das danach trachtet, die Natur rücksichtslos bis zur Vernichtung auszubeuten. Jene, die die Welt in Blut ertränken, sind vor allem jene, die ein Verlieren nicht akzeptieren können. Denn sie besitzen nichts, nicht einmal ein winziges Körnchen, das der Menschheit, einer Moral oder dem Ästhetischen dient.
Etwas zu verlieren, ist ein urmenschlicher Schicksalszustand. Jene, die einen Krieg beginnen, hierzu Waffen verschachern, besitzen längst nichts Menschliches mehr. Deswegen führen sie ständig Krieg. Sie besitzen ja keine Menschlichkeit, die sie verlieren könnten.
Jemand, der nicht verlieren kann, vermag auch nicht zu gewinnen. All die, die den Krieg entfachen, ihn aufrechterhalten, sind jene, die nicht verlieren können, denn sie besitzen keine Menschlichkeit.
Sie kennen kein Verliebtsein, keine Sehnsucht, keine Freude. Sie sehen nur eine Handelsmöglichkeit: den Wunsch, zu siegen. Ein Trachten, das starrt voller Unmoral, vernichten, vergeuden, vertreiben, Leid bringen… außerdem aber voller Gier ihre Tresore vor Geld bersten zu sehen.
Einer unserer sehr bekannten Dichter schrieb:
„Ich weiß, dass Gott nicht Partei ergreift
Weil er Angst hat, zu verlieren“
Tragischer- und bezeichnenderweise wurde auch dieser visionäre Lyriker durch religiöse und bigotte Fanatiker ermordet, als diese in der anatolischen Stadt Sivas das Hotel Madımak in Brand steckten. Vor gerade einmal Fünfundzwanzig Jahren, am 03.07.1993.
IV
Der Machthunger und die Herrschsucht der Menschen und der imperialistische Geist der Staaten und ihrer Politiker stellen heute eines der gewaltigsten Nöte unserer Welt dar.
Eines der wichtigsten Instrumente, die unserer Sache dienen wird, ist eben die Literatur. Nämlich die Kraft von kreativen Menschen, die die Welt aus einer ästhetisch-künstlerischen Perspektive zu betrachten vermögen. Wir müssen an die Kraft der Kunst, der Macht der Literatur, des Wortes glauben. Wir dürfen niemals vergessen, dass die Kriege immer gegen die Interessen der Völker geführt wurden und jedes Mal den Interessen der Herrschenden dienten und von ihnen entfacht wurden, nur damit diese Gierenden ihre Macht erhalten konnten. Solange wir unter den Menschen jene Freiheit nicht herstellen, deren Kraft und Überzeugung auf ihre Liebe zum Leben, und auf ihre Entschlossenheit, zu leben, basiert; solange wir die Demokratie nicht auf der gesamten Welt verwirklichen und die Völker nicht überzeugen können, wird unser menschliches Wesen noch weiter degenerieren und wir alle noch länger leiden. Solange wir dieser Hilflosigkeit weiter verfallen und hierfür Bedingungen schaffen, werden die Kriege auf der Welt weiter wüten.
Wir dürfen aber nicht vergessen, dass, wenn nun das Gift unser menschlichen Werte der Krieg ist, so dessen Gegengift Demokratie, ästhetischer künstlerischer Reichtum heißt. Dass der Imperialismus vor allem im Nahen Osten und Afrika unterdrückerische Kräfte unterstützt, liegt hauptsächlich an seiner Ausrichtung, mit der Kriegs- und Waffenwirtschaft seine Macht zu verteidigen versucht. Gegen diese unheilvolle Politik, die wir in allen Gegenden der Welt beobachten können, müssen wir unseren Verstand nutzen und unsere künstlerische Kraft einsetzen.
V
Ihr, meine Autorenkollegen, ihr, die Erschaffer unserer erhabenen Zukunft, ich habe meine Worte, mich stützend auf mein persönliches Zeugnis, die Lebensgeschichte meiner Großmutter, die in ihrem Leben viele Verluste erleiden musste, die aber jeden Schmerz als urmenschlich, zum Leben zugehörig betrachtete, begonnen. Eine Geschichte, die den Schmerz aber nicht heiligte, sondern ihn überwand, indem sie sie gelernt hatte, mit der Natur, mit ihren Nachbarn, mit allen Lebewesen in Eintracht zu leben. Ich bin fest davon überzeugt, dass unsere Zukunft eben auch in dieser, in diesen Geschichten liegt.Nicht indem wir töten oder sterben, sondern wenn wir lieben, werden wir wachsen.
Wir müssen all jene, die glauben, sie erzielten Gewinne, wenn sie in einer vermeintlichen Bauernschläue nicht nur die Unzulänglichkeit ihrer eigenen Landesgesetze ausnützend, sondern auch die Lücken in den allgemeinen Regeln der Menschheit missbrauchen und hierbei die Natur und Zivilisation gleichermaßen zerstören, immer aufs Neue daran erinnern, dass sie in ihrem Tun ertrinken werden und dass sie sich nur retten können, wenn sie sich an demokratischen Werten orientieren, die Natur achten und das menschliche Zusammenleben voranbringen.
Niemals dürfen wir vergessen, dass monarchistische, theokratische und intolerante Systeme Wasser auf die Mühlen des Imperialismus, der Ausbeutung und Zerstörung leiten. Hier müssen wir unsere Schlacht schlagen. Ein konsequenter Frieden kann nur auf dem Boden von Demokratie, Freiheit, Pluralismus und eines kulturellen Reichtums verwirklicht werden. Jede antidemokratische Regierung und Bewegung wird nur jene und ihr System stärken, die laut nach Krieg brüllen. So muss ich noch einmal betonen, nur die Gesellschaften, deren freidenkerische Menschen die kreative und gebärende Kraft der Natur erkennen und an die Tugenden des Humanismus glauben, können den Frieden verwirklichen.
Übersetzer : Danyal Nacarlı
Foto: Metin Turan