Editorial November 2025

13.11.2025 | Newsletter

Liebe Freundinnen und Freunde des KulturForums,

In der Türkei wird die Verbindung zwischen dem eingeleiteten Friedensprozess mit den Kurden und den gleichzeitig zunehmenden antidemokratischen Maßnahmen des AKP-Regimes heftig diskutiert. Nach wie vor sitzen führende Politiker und Intellektuelle in Gefängnissen; täglich kommen neue Festnahmen und Gerichtsurteile gegen oppositionelle Politiker und Medienvertreter hinzu. 

In den Friedensprozess kam nach Monaten der oft hinter verschlossenen Türen geführten Verhandlungen wieder etwas Bewegung: So traf sich Präsident Erdoğan mit einer Delegation der pro-kurdischen DEM-Partei, und die PKK kündigte ihrerseits an, dass sich ihre Einheiten nach Nordirak zurückziehen würden. Der nächste Schritt könnte ein Treffen der Vertreter aller Parteien der Friedenskommission mit Öcalan auf der Gefängnisinsel İmralı sein, dem eine große symbolische Bedeutung beigemessen wird. 

Wie der Rechtsanwalt und Parlamentsabgeordnete Can Atalay befinden sich mehrere gewählte Volksvertreter in Haft. Der Kulturförderer Osman Kavala sitzt seit nunmehr acht Jahren wegen haltloser, wechselnder Vorwürfe im Hochsicherheitsgefängnis Silivri ein. Bereits 2019 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) seine Freilassung verlangt. Da dieses Urteil nicht beachtet wurde, leitete der Europarat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Türkei ein. Doch Kavala bleibt weiter in Haft. Anlässlich des Jahrestags seiner Inhaftierung am 1. November haben nun zahlreiche Menschen aus Politik, Kultur und Zivilgesellschaft ihre Solidarität mit Kavala bekundet und Gerechtigkeit gefordert. Unter ihnen war auch der ehemalige türkische Präsident Abdullah Gül, ein ehemaliger Verbündeter Erdoğans, der die Umsetzung des EGMR-Urteils forderte.

Ebenfalls Unterstützung von unerwarteter Stelle erfuhr der seit neun Jahren inhaftierte kurdische Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş. Ähnlich wie im Fall Kavalas liegt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vor, das die Freilassung von Demirtaş fordert. Jüngst wurde ein weiterer Einspruch der Türkei gegen die Entscheidung des EGMR als haltlos abgewiesen – einen Tag später meldete sich der Vorsitzende der rechtsextremen Partei MHP, Devlet Bahçeli, zu Wort und sagte, dass eine Freilassung Demirtaş‘ für die Türkei von Vorteil sein könnte. Präsident Erdoğan ließ verlauten, dass die bevorstehende Entscheidung der türkischen Justiz akzeptiert werden würde.

Die Freilassung der ehemaligen HDP-Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ ist eine der zentralen Forderungen der DEM-Partei. Diese übernimmt im Friedensprozess zwischen der PKK und der türkischen Regierung eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der Zukunft der kurdischen Bewegung in der Türkei. Ungeachtet dessen geht die türkische Justiz weiterhin gegen Politiker der Oppositionspartei CHP vor. So wurde die Annullierung der Wahl des aktuellen CHP-Vorsitzenden Özgür Özel von einem Gericht abgewiesen, während die Staatsanwaltschaft einen weiteren Haftbefehl gegen den abgesetzten Istanbuler Oberbürgermeister İmamoğlu wegen „politischer Spionage” erließ. Pikanterweise erfolgte diese Verlautbarung nur wenige Tage vor dem Besuch von Bundeskanzler Friedrich Merz in Ankara. Bei dem Treffen umschiffte Merz diese Thematik in der Öffentlichkeit und äußerte  erst auf Nachfrage eines Journalisten, dass die Umsetzung der Rechtsprechung in der Türkei nicht seinen Vorstellungen entspräche. Angesichts der zahlreichen politischen Gefangenen im Land wirkte es wie Hohn, dass der Bundeskanzler dann doch auf offener Bühne Präsident Erdoğan widersprach. Allerdings nicht zur Lage der Menschenrechte oder der Pressefreiheit in der Türkei, sondern zu Erdoğans Positionen zu Gaza und der israelischen Regierung.

Knapp eine Woche nach seinem Besuch konnte Merz selbst beobachten, wie es um die Pressefreiheit steht. Im Zuge der Ermittlungen gegen die Istanbuler Stadtverwaltung wurden fünf bekannte Journalisten kurzzeitig in Gewahrsam genommen. Soner Yalçın, Şaban Sevinç, Ruşen Çakır, Yavuz Oğhan und Batuhan Çolak wurden ohne Haftbefehl ins Polizeipräsidium gebracht, um in dem laufenden Korruptionsverfahren gegen eine Gruppe von Personen aus dem Umfeld von Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu befragt zu werden. Anschließend wurden sie mit einem internationalen Reiseverbot belegt und wieder freigelassen – eine Einschüchterungstaktik der Behörden, die in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Laut Staatsanwaltschaft waren Grund für die Befragung Statements der Journalisten, in denen diese die Inhaftierung İmamoğlus kritisiert hatten. Gegen İmamoğlu verlangte die Anklage zuletzt bis zu 2532 Jahre Haft.

Freiheit für alle politischen Gefangenen in der Türkei! – Foto: © KulturForum