Liebe Freundinnen und Freunde des KulturForums,
wie unterschiedlich der Blick auf die Geschichte und Gegenwart der Türkei sein kann, zeigte sich am 29. Oktober in Istanbul und Köln. Während der türkische Präsident Erdoğan in seiner Rede zum Jubiläum gewohnt unversöhnliche Töne traf und alle gesellschaftlichen und ökonomischen Verwerfungen auf die Oppositionsparteien abwälzte, kam es bei unserer Veranstaltung „100 Jahre Republik Türkei – 30 Jahre KulturForum“ zu einer differenzierten Betrachtung der Entwicklungen im Land. In Gesprächsrunden, Musikbeiträgen, Reden und Panels wurde dabei auch an all die Menschen erinnert, die in der Türkei wegen ihrer Meinungsäußerungen, aktivistischen oder politischen Arbeit verfolgt werden.
Nur wenige Tage nach dem Jubiläum zeigte sich in aller Deutlichkeit, dass sich demokratische Kräfte in der Türkei nicht mehr auf den Rechtsstaat verlassen können. Stein des Anstoßes war ein Urteil des Verfassungsgerichts, dass die Freilassung des Anwalts Can Atalay fordert.
Atalay war im Zuge der Gezi-Prozesse zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden, gleichzeitig genießt er aber als neugewählter Abgeordneter der Arbeiterpartei der Türkei parlamentarische Immunität. Der Kassationshof akzeptierte das Urteil des Verfassungsgerichts nicht und erstattete Anzeige gegen mehrere Richter des Verfassungsgerichts. Hinter dem Konflikt zwischen den zwei obersten Gerichten im Land stehen politische Machtspiele, die den Glauben an eine unabhängige türkische Justiz weiter erodieren lassen. Präsident Erdoğan stellte sich öffentlich hinter die Entscheidung des Obersten Berufungsgerichts und brachte eine Neubesetzung des Verfassungsgerichts und sogar eine Änderung der Verfassung ins Gespräch.
Für die Bundesregierung besteht trotz massiver Proteste offenbar kein Anlass, den geplanten Berlin-Besuch Erdoğans abzusagen. Gerade jetzt, und vor allem wegen der zunehmenden Repressalien gegen Andersdenkende in der Türkei, sagt das KulturForum entschieden „Nein!“ zu dieser erneuten Appeasement-Geste.
Doch dieser Besuch steht auch im engen Zusammenhang mit dem unseligen „Flüchtlingsdeal“ der EU-Staaten mit der AKP-Regierung. Für die konservativen Kräfte genauso wie für die Ampel-Koalition im Land scheint es aktuell nur noch ein Thema zu geben: Migration. Aussagen, die man vor kurzem noch von der AfD erwartet hätte, gelten nun als konsensfähig. So werden etwa neben fast einhelligen Forderungen einer Obergrenze für unerwünschte Formen der Zuwanderung auch Stimmen laut, die den „Anteil von Migranten“ in Stadtteilen auf 25 Prozent deckeln wollen. Von derlei rechter Polemik profitieren indes vor allem die rechtsextremistischen, antidemokratischen Kräfte, während der öffentliche Diskurs zu verrohen droht.
Ein weiteres moralisches Dilemma für die Ampel-Koalition offenbart sich in ihrer bedingungslosen Verbundenheit mit Israels Regierung, während selbst die US-Regierung auf Distanz geht – im Gegensatz auch zur Position des UN-Generalsekretärs Guterres, der den Hamas-Terror in aller Schärfe verurteilt, und zugleich gegen die nachfolgenden Kriegsverbrechen der Netanjahu-Koalition protestiert und die humanitäre Katastrophe in Gaza klar beim Namen genannt hat.
Setzen wir uns weiterhin für friedliche Lösungen ein, und bleiben wir wachsam – gegen Fake News und Fanatismen, von welcher Seite sie auch kommen mögen!
Ihr KulturForum-Team
Bild: Bianet