Editorial Newsletter September

06.09.2023 | Newsletter

Liebe Freundinnen und Freunde des KulturForums,

In der Türkei ist, wie in einigen anderen Ländern auch, nach der Wahl stets vor den nächsten Wahlen: Die vergebliche Präsidentschaftskandidatur des Oppositionsbündnisses um Kandidat Kemal Kılıçdaroğlu im Mai ist noch nicht einmal richtig aufgearbeitet, da stehen schon die Vorbereitungen auf die Kommunalwahlen im nächsten Jahr an. Ob sich die großen Oppositionsparteien dabei erneut auf ein Bündnis einigen können, ist mehr als fraglich.

Gerade in den Großstädten Ankara und Istanbul, in denen aktuell jeweils ein CHP-Oberbürgermeister am Ruder ist, dürfte es zu einer knappen Entscheidung kommen. Die rechtsnationale IYI-Partei, Teil des Sechser-Tischs bei den vergangenen Wahlen, hat bereits angedeutet, dass sie mit eigenen Kandidaten ins Rennen gehen könnte; eine Unterstützung durch die HDP scheint ebenso ungewiss. Die größte Oppositionspartei CHP hat bislang kaum Konsequenzen aus der Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen gezogen: der Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu erteilte Forderungen nach seinem Rücktritt eine klare Absage und wies jegliche Kritik zurück.

Auf den Wahlsieg der AKP im Mai folgte eine lang erwartete starke Abwertung der Lira. In der Türkei gehören mittlerweile unangekündigte Preiserhöhungen, auf türkisch „zam“, zum Alltag, an der auch die Neubesetzung auf dem Posten des Finanzministers und der Zentralbank bislang wenig geändert hat. In den Nachrichten kommt der aktuelle Stand für Dollars, Euros und die Feinunze Gold so selbstverständlich wie der Wetterbericht. Nach der zuletzt starken Teuerung bei Lebensmitteln ist nun der Wohnungsmarkt ein Preistreiber: Laut den Analysten der globalen Immobilienberatung Knight Frank erlebte die Türkei im 1. Quartal 2023 im Vergleich zum Vorjahr weltweit mit Abstand die stärkste Steigerung beim Preis für Wohnraum – besonders betroffen sind dabei die Großstädte, in denen nächstes Jahr Wahlen anstehen.

Der Druck auf alles, was abseits der Regierungslinie steht, bleibt weiterhin hoch. Dies gilt auch für Medienschaffende – insbesondere solche, die politische Missstände aufdecken. Mitte August wurde der Investigativjournalist Barış Pehlivan bereits zum fünften Mal inhaftiert, dieses Mal um eine Reststrafe, die während der Pandemie ausgesetzt worden war, abzusitzen. In ähnlichen Fälle wurde meist von der Reststrafe abgesehen, nicht so bei Pehlivan, der in seinen Arbeiten unter anderem Folter in türkischen Gefängnissen thematisiert und über die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes in Libyen geschrieben hatte. Zuvor hatte es den Chefredakteur des Fernsehsenders Tele1 getroffen: Merdan Yanardağ sitzt seit Ende Juni in Untersuchungshaft weil er im Fernsehen die Haftbedingungen des PKK-Gründers Abdullah Öcalan kritisiert hatte; der Sender wurde daraufhin mit einem Sendeverbot belegt. Der Deutsche Journalisten Verband DJV warnte derweil seine Mitglieder vor Reisen in die Türkei. Die türkische Regierung würde Menschen, die Kritik äußerten, als militante Staatsfeinde betrachten.


Ein Lichtblick für viele Menschen, die im Dauerkrisenmodus in der Türkei leben, dürfte der Gewinn der Europameisterschaften des Frauen-Volleyballteams gewesen sein. Das von Erfolg zu Erfolg stürmende Team steht für viele im Land beispielhaft für eine progressivere, moderne Türkei. Allen voran die Spielerin Ebrar Karakurt, die sich auch in den sozialen Medien offensiv für LGBT-Rechte einsetzt. Im Vorfeld des EM-Finales gegen Serbien hatten konservative Medien und Politiker eine homophobe Kampagne in den sozialen Medien gestartet und gefordert, dass die offen lesbisch lebende Spielerin nicht mehr für die Türkei antreten solle. Die Antwort gab Karakurt derweil auf dem Platz: Mit ihrer Leistung war sie entscheidend am Erfolg beteiligt.

Protestierende vor der türkischen Statistikbehörde stellen die offiziellen Inflationszahlen infrage – Foto: DISK / twitter