Liebe Freundinnen und Freunde des KulturForums,
nach einer dramatischen Wahlnacht mit vielen Unklarheiten und Unregelmäßigkeiten steht fest: Es gibt am 28. Mai eine Stichwahl. Keiner der Anwärter konnte am 14. Mai mehr als 50% der Stimmen auf sich vereinen. Bei 99,9% ausgezählten Stimmen kommt Erdoğan auf 49,25%, Kılıçdaroğlu auf 45,06% und der rechtsnationale Oğan auf 5,28%, der damit im nächsten Wahlgang zum Königsmacher avancieren könnte.
An den Wahlurnen kam es vergleichsweise nur zu wenigen Unregelmäßigkeiten. Dies ist wahrscheinlich auch den Hunderttausenden Menschen zu verdanken, die im ganzen Land die Wahlen beobachteten. Angehörigen einer Delegation aus Deutschland soll allerdings der Zutritt zu Wahlbüros im Südosten der Türkei durch bewaffnete Polizisten verwehrt worden sein. Größere Unstimmigkeiten folgten vor allem während der Auszählung.
Zwischenzeitlich war die Homepage der obersten Wahlkommission nicht erreichbar, die Fernsehsender zeigten verschiedene Hochrechnungen und es kam zu einer Differenz zwischen geöffneten und bereits ausgezählten Urnen. Zudem wurde berichtet, dass gerade aus den Gebieten, in denen die Opposition in der Regel viele Stimmen gewinnt, teils etliche Neuauszählungen derselben Wahlurnen beantragt wurden und so die Auszählung weiter verzögert wurden.
Bei den zeitgleich stattfindenden Parlamentswahlen blieb die Oppositionskoalition hinter den Erwartungen zurück. Die AKP musste zwar deutliche Verluste hinnehmen, ihre rechtsextreme Partnerpartei MHP blieb aber abweichend von Prognosen weitestgehend stabil. Die Kandidaten der prokurdischen HDP, die wegen der Repressionen und eines drohenden Parteiverbots auf der Liste der Grünlinken Partei YSP antraten, kamen mit 8,78 % auf rund 3% weniger Stimmen als bei den vorherigen Wahlen. Insgesamt konnte die Opposition nur wenige Wähler:innen aus den traditionell starken AKP-Gebieten in Zentralanatolien dazu gewinnen. Auch in den Erdbebengebieten blieb ein großer Umschwung aus.
Vor der anstehenden Stichwahl ums Präsidentenamt am 28. Mai wird viel auf die Wähler:innen des rechtsnationalen Kandidaten Sinan Oğan ankommen. Seine im ersten Wahlgang erreichten 5,2% der Stimmen könnten den Unterschied ausmachen. Oğan hatte sich im Wahlkampf mit anti-kurdischen Statements profiliert. Die Parteispitze der prokurdischen HDP hatte vor den Wahlen ihre Unterstützung für den Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu ausgerufen.
Nun bleiben noch weniger als zwei Wochen um erneut in der Breite Wähler:innen zu mobilisieren und entschlossen für einen demokratischen Wandel zu werben. Die Enttäuschung des Wahlabends bei den vielen progressiven Kräften sowohl in der Türkei als auch in der türkeistämmigen Community im Ausland muss sich schnell wieder in Hoffnung und engagiertes Handeln umschlagen. Die Zahlen über das Wahlverhalten der Wahlberechtigten im Ausland, vor allem in Österreich und in Deutschland, verdeutlichen noch einmal den enormen Bedarf an objektiven Informationen und politischer Bildungsarbeit, die auch diese Gruppen erreichen müssten.
Foto: dunya.com