Liebe Freundinnen und Freunde des KulturForums,
Am 16. Mai wurden nach jahrelangen Verhandlungen eine Reihe von Urteilen im Kobanê-Prozess verkündet. Im Zentrum des fast zehn Jahre andauernden Verfahrens steht der Vorwurf, zu Protesten gegen die türkische Regierung aufgerufen zu haben, die zeitweise zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen in überwiegend kurdisch bewohnten Großstädten geführt hätten. 2014 drohte die Terrororganisation IS die kurdisch-bevölkerte syrische Grenzstadt Kobanê einzunehmen. Kurdische Milizen verteidigten die Stadt, während die türkische Regierung verhinderte, dass Hilfe aus der Türkei über die Grenze kam – bei Protesten gegen die Regierungspolitik unter anderem in Diyarbakır kam es nach offiziellen Angaben zu 37 Toten.
Als nach dem Putschversuch 2016 der Ausnahmezustand verhängt wurde, nutzte die Regierung den Moment, um die Führungsriege der prokurdischen HDP-Partei in Untersuchungshaft zu nehmen. Selahattin Demirtaş und Co-Parteichefin Figen Yüksekdağ wurden verhaftet und insgesamt 108 Menschen aus der kurdischen Bewegung in Politik und Zivilgesellschaft angeklagt. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof forderte mehrfach die Freilassung und kritisierte die unverhältnismäßige Dauer der Untersuchungshaft.
Nun wurde Demirtaş zu 42 Jahren und sechs Monaten, Yüksekdağ zu 30 Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Von den insgesamt 108 Angeklagten bekamen 24 Personen Freiheitsstrafen zwischen neun und 42 Jahren, zwölf wurden freigesprochen, weitere 72 gelten als auf der Flucht. Die Inhaftierung vom charismatischen Politiker Demirtaş, der auch über das eigene Klientel hinaus auf Zuspruch in der türkischen Gesellschaft gestoßen war, leitete eine beispiellose juristische Verfolgung der kurdischen Bewegung ein, die bis heute anhält. Demirtaş hatte bereits vor dem Urteil seinen Rückzug aus der Politik bekannt gegeben. Die HDP, die sich wegen eines drohenden Verbotsverfahrens mittlerweile in DEM umbenannt hat, hat bereits angekündigt in Revision zu gehen – der aktuelle Ausgang des Kobanê-Prozesses führte bereits zu landesweiten Protesten; die Urteile gelten als eine weitere Provokation seitens der nationalistischen Kräfte in der Regierung. Eine Eskalation in den nächsten Wochen ist nicht ausgeschlossen.
Die Urteile im Kobanê-Prozess dienen auch als Realitätscheck für die Opposition: nach dem positiven Ausgang der Wahlen galt die Erdoğan-Regierung als angeschlagen. Eine geplante Änderung im Strafrecht (neues „Agentengesetz“) lässt dagegen tief blicken, wie weit die Erodierung des Rechtsstaats vorangeschritten ist: Unter dem neuen Passus könnten Journalist:innen, die Förderung von internationalen Quellen erhalten, bereits wegen „möglicher Einflussnahme“ angeklagt werden. Reporter ohne Grenzen zufolge, könnte diese vage Formulierung zu weiterer Rechtsunsicherheit für im Land arbeitende Medienschaffende führen. Bereits die aktuelle Rechtslage lässt willkürliche Verfolgung zu: So sei mit dem vor anderthalb Jahren eingeführten sogenannten „Desinformationsgesetz“ gegen über 30 Journalist:innen vorgegangen worden.
Die kurdische Politikerin Gültan Kışanak (vorne im Bild, in Grün) wurde vorübergehend aus ihrer Haft entlassen – Foto: © bianet