Liebe Freundinnen und Freunde des KulturForums,
Die AfD hat bei den Europawahlen in Deutschland als zweitstärkste Kraft abgeschnitten. Während in Finnland, Schweden und Portugal die progressiven Kräfte gewinnen konnten, legten auch in Italien, Frankreich und Österreich die rechten Parteien zu. Der Rechtsruck ist ein beunruhigendes Zeichen für alle Kräfte der Zivilgesellschaft, die sich in ihrer täglichen Arbeit für Demokratie und kulturellen Austausch einsetzen. Nach den erschütternden Berichten über das „Remigrations“-Treffen in Potsdam war es Anfang des Jahres zu den größten Demonstrationen in Deutschland seit Jahrzehnten gekommen – in konkreter Politik hat sich dieses starke zivilgesellschaftliche Engagement jedoch nicht niedergeschlagen. Vor den Wahlen stürzten sich auch die etablierten Parteien auf den aufgeheizten Migrationsdiskurs statt andere soziale oder ökologische Themen stärker in den Mittelpunkt zu stellen.
Auch auf das angekündigte Demokratiefördergesetz der Bundesregierung wartet die aktive Zivilgesellschaft weiter vergeblich. Dabei gilt dringend, was Berîvan Aymaz, Vizepräsidentin des Landtags NRW, nach den Ergebnissen bei der Europawahl auf Twitter forderte: Der Kampf gegen den Rechtsruck muss über die Parteigrenzen hinweg für alle zur zentralen Aufgabe werden.
In der Türkei sitzen rechte Parteien bereits seit langem in der Regierung, die allerdings seit den Kommunalwahlen im März als geschwächt gilt. Präsident Erdoğan besuchte zuletzt zum ersten Mal seit 18 Jahren das Hauptquartier der größten Oppositionspartei CHP und traf den Parteivorsitzenden Özgür Özel zu einem längeren Gespräch. In der politisch tief gespaltenen Türkei kommt einer solchen Geste große symbolische Bedeutung zu und zeigt zumindest einen Trippelschritt in Richtung Normalisierung. Nur wenige Tage später folgte der Rückzug eines Gesetzentwurf für das sogenannte „Agentengesetz“, das von Opposition und Medienverbänden scharf kritisiert worden war.
Diese kleinen Errungenschaften werden jedoch von der breiten Öffentlichkeit eher skeptisch aufgenommen; viele Beobachter sehen darin Anzeichen für ein neues taktisches Manöver von Präsident Erdoğan. Zudem werden sie von aktuellen Gerichtsprozessen überschattet. Die drei mutmaßlichen Todesschützen des Anwalts und Friedensaktivisten Tahir Elçi wurden von einem Gericht in Diyarbakır freigesprochen. Und auch im Prozess gegen einige der Drahtzieher des Mordes an Hrant Dink fordert die Staatsanwaltschaft, dass die Anklage gegen mehrere Personen fallen gelassen wird. Der Attentäter selbst, Ogün Samast, war bereits Ende 2023 wegen guter Führung freigelassen – zwölf Jahre nach seinem Schuldspruch. Im Prozess blieben viele Fragen unbeantwortet: mutmaßliche Drahtzieher wurden wegen Verjährung nicht verfolgt und in den letzten Jahren rückte die Staatsanwaltschaft vor allem eine mögliche Verstrickung der Gülen-Bewegung in den Mittelpunkt.
Protestmarsch türkischer Anwaltskammern für Gerechtigkeit im Fall Tahir Elçi – Foto: © bianet