Angesichts der weiterhin hohen Lebenshaltungskosten im Land, des kaum sichtbaren Fortschritts im kurdischen Friedensprozess und der schlechten Umfragewerte sucht die Regierungspartei AKP ihr Heil im Kulturkampf. Aktuell sind Kulturschaffende die Leidtragenden, die ins Visier der Justiz geraten. So wurden gegen die Girlband „Manifest” nach einem Konzert Anfang September von der Istanbuler Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen „schamlosen Verhaltens in der Öffentlichkeit” aufgenommen und den Musikerinnen ein Ausreiseverbot erteilt.
Rund zwei Wochen später stellte das Familienministerium einen Antrag, den neuen Song „Perperişan” von Mabel Matiz zu sperren. Laut dem Ministerium würde der queere Musiker mit dem Songtext gegen die Familienwerte des Landes verstoßen und sei potenziell gefährlich für das Kindeswohl. Daraufhin wurde der Song in der Türkei auf den gängigen Streamingplattformen gesperrt und Matiz für den Zeitraum der Ermittlungen ein Ausreiseverbot auferlegt. In einem weiteren Fall wurde die Drehbuchautorin Merve Göntem der beliebten TV-Serie „Kızılcık Şerbeti” kurzzeitig festgenommen – wegen Aussagen aus einem Interview, das sie vor vier Jahren gegeben hatte.
Der bekannte TV-Journalist Fatih Altaylı und die Schauspielmanagerin Ayşe Barim müssen derweil weiter in Haft bleiben. Altaylı, jahrelang Aushängeschild des Fernsehsenders Habertürk, wurde im Juni festgenommen, da er angeblich zu Gewalt gegen Präsident Erdoğan aufgerufen hatte. Hintergrund war eine Äußerung auf Altaylıs YouTube-Kanal, in der er, angelehnt an eine mögliche weitere Amtszeit Erdoğans, anmerkte, dass es schon im Osmanischen Reich zu Volksaufständen gegen selbstgerechte Sultane gekommen war.
Gegen Ayşe Barim, Gründerin einer einflussreichen Schauspielagentur, wurden bereits im Januar Ermittlungen aufgenommen, da sie angeblich ihre Klienten zur Teilnahme an den Gezi-Protesten aufgefordert hatte. Die schwerkranke Managerin wurde Anfang Oktober aus ihrer zehnmonatigen Untersuchungshaft ins Krankenhaus entlassen, nur um einen Tag später erneut inhaftiert zu werden.
Auch im vielgelobten Friedensprozess mit der PKK herrscht weiterhin Unklarheit. Während die prokurdische Partei DEM auf demokratischen Reformen und der Freilassung politischer Gefangener wie Selahattin Demirtaş und anderer besteht, gibt sich Erdoğan scheinbar gönnerhaft, in der Praxis jedoch sehr zurückhaltend. Die AKP-Regierung legte am 7. Oktober, dem vorletzten Tag einer dreimonatigen Frist, gegen das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs für die Freilassung von Demirtas Berufung ein und signalisierte damit politischen Beobachtern in Ankara zufolge, dass sie auf die Forderungen der kurdischen Seite nicht eingehen wird.
Verwirrung herrschte auch nach Erdoğans US-Besuch: Die nachträglich lobenden Worte von Präsident Trump an seinen „Freund“ Erdoğan vor dem die Hamas großen Respekt haben soll, konnten seine Aussage während des Erdoğan-Besuchs im Weißen Haus nicht relativieren, dass sich Erdoğan in „trickreichen Wahlen“ gut auskenne.
Die Polizei riegelt Istanbuler Hauptbüro der CHP ab, um ein Demonstrationsverbot durchzusetzen – Foto: © bianet