Ende Oktober jährt sich die Gründung der Republik Türkei zum hundertsten Mal. Einem Leitsatz des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk zufolge gilt „Yurtta sulh, cihanda sulh“ – Frieden in der Heimat, Frieden in der Welt. Aktuell scheint dies weit entfernt. Nach einem Anschlag auf das türkische Innenministerium zu dem sich die PKK bekannt hat, verstärkte die türkische Luftwaffe Angriffe auf den von der kurdischen YPG kontrollierten Teil Nordsyriens und attackierte dabei auch zivile Infrastruktur. In Bergkarabach ist die von vielen befürchtete ethnische Säuberung der armenischen Bevölkerung Realität geworden: mehr als 100.000 Menschen haben nach einer Offensive der von der türkischen Regierung unterstützten aserbaidschanischen Armee ihre Heimat verloren. Und nach dem schrecklichen Terrorangriffen der Hamas den Gegenschlägen der israelischen Armee droht eine humanitäre Katastrophe in Gaza und ein Flächenbrand in der Region. Trotz des Leids gehen Stimmen, wie die von Daniel Barenboim, die eine Annäherung fordern, im Kriegsgedröhne unter.
Auch aus der türkischen Politik vernimmt man keine versöhnlichen Töne. Bis auf wenige Ausnahmen gab es über Parteigrenzen hinweg keine Verurteilung der Massaker der Hamas, die in den letzten Jahren stets den Rückhalt der AKP-Regierung genossen hatte. Dennoch gerieren sich der türkische Präsident Erdoğan und sein Außenminister Hakan Fidan aktuell als mögliche Mediatoren zwischen Hamas und Israel, sollten sich die Konfliktparteien am Verhandlungstisch wiederfinden.
Innenpolitisch sind derlei mediatorische Schritte der Regierung nicht zu erwarten. In einem lang erwarteten Urteil zum Gezi-Prozess, bestätigte der oberste Kassationshof die Strafen für Osman Kavala, Can Atalay, Tayfun Kahraman, Çiğdem Mater und Mine Özerden. Während es bei dem Politiker der sozialistischen TIP-Partei Can Atalay wegen einer möglichen parlamentarischen Immunität noch Hoffnung auf eine frühzeitige Entlassung gibt, behält die lebenslange Haftstrafe für den Kulturmäzen Osman Kavala stand. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat in einer Dringlichkeitsdebatte die Türkei derweil aufgefordert, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen und Kavala unverzüglich freizulassen.
Auch der Zustand der größten Oppositionspartei CHP gibt wenig Anlass zur Hoffnung. Bei einem Parteikongress in Istanbul verstiegen sich Mitglieder der Gremien zu Angriffen untereinander und vermittelten Monate vor den anstehenden Oberbürgermeisterwahlen in Istanbul kein Bild der Geschlossenheit. Letzten Monat vermied die Parteispitze sich vor ihren kurdischen Abgeordneten Sezgin Tanrıkulu zu stellen, gegen den Ermittlungen „wegen öffentlicher Beleidigung der Republik Türkei“ eingeleitet wurden, weil er Kritik an der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien und der Armee geäußert hatte.
Zum 100. Jahrestag der Staatsgründung gibt es also viel Aktuelles zu diskutieren – aber auch Raum für die Retrospektive: Das KulturForum TürkeiDeutschland feiert am 29. Oktober parallel zum Staatsjubiläum ihr 30-jähriges Bestehen mit Gesprächsrunden, Musik und Kultur im WDR Funkhaus Berlin.
Protest für die Freilassung des Politikers Can Atalay vor dem Gerichtsgebäude Istanbul Çağlayan – Foto: artıgerçek / twitter