Liebe Freundinnen und Freunde des KulturForums,
nach der Niederlage in der Stichwahl um das Präsidentenamt muss sich die Opposition aktuell neu sortieren. Auch wenn es keine freien und fairen Wahlen waren und es Hinweise auf zahlreiche Manipulationen gibt, bleibt unterm Strich das Urteil, dass das Bündnis um den CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu ihre Wählerschaft nicht ausreichend mobilisieren konnte. Die Parteispitze der prokurdischen HDP, die bei den Parlamentswahlen hinter ihren vorherigen Ergebnissen zurückblieb und wegen der Repressionen unter dem Banner der Grün/Linken Partei antrat, deute an, den Weg für neues Personal freizumachen. Der ehemalige Co-Vorsitzende der Partei Selahattin Demirtaş kündigte aus dem Gefängnis seinen Rückzug aus der aktiven Politik an.
Auch die Parteien des sogenannten Sechser-Tisches zogen ernüchtert Bilanz, dass das Oppositionsbündnis nicht den erwünschten Effekt gebracht hätte. Dabei wird auch die Kritik gegenüber dem unterlegenen Präsidentschaftskandidaten Kılıçdaroğlu lauter, der vor den Stichwahlen noch versucht hatte, mit einer Anti-Flüchtlingskampagne Stimmen zu gewinnen. Bisher ignoriert die CHP-Parteispitze aber geflissentlich Rücktrittsforderungen.
Für die türkische Zivilgesellschaft gibt es derweil wenig Hoffnung, dass die Repressionen und der Druck in den nächsten fünf Jahren unter Präsident Erdoğan abnehmen werden. Noch am Abend der Wahl hielt der AKP-Politiker eine wenig versöhnliche Rede, in der er die Opposition und LGBT-Gruppen scharf attackierte.
Das Wahlverhalten der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland nährt diese Befürchtungen. Bis auf einige wenige Städte hat die Mehrzahl der Wahlberechtigten für rechte Parteien gestimmt. Auf den Gesamtanteil der in Deutschland lebenden Menschen mit Türkeibezug gerechnet, mögen die Zahlen nicht so bedrohlich wirken, ein Alarmsignal sind sie allemal. Auf einer Veranstaltung des KulturForums brachte der im belgische Exil lebende Journalist Doğan Özgüden die aktuelle Situation auf den Punkt:
„Es sind nicht mehr die Arbeiter, die vor 30 oder 40 Jahren nach Europa kamen, um in den Bergwerken zu arbeiten. Es findet ein Klassenwechsel statt. Außerdem haben die neuen Generationen einen neuen Status. Noch wichtiger ist, dass die türkische Regierung ein großes Netzwerk für Gehirnwäscheerrichtet hat, was für uns ein großes Problem darstellt – mit seinen Botschaften in Europa, mit DITIB oder anderen, von den Botschaften gelenkten Verbänden. Wie werden wir dagegen vorgehen? Das ist die ständige Aufgabe, die vor uns liegt. Wir werden beobachten, wie sich die Opposition in Europa organisiert, um dem entgegenzuwirken. Und wir werden versuchen, so viel wie möglich dazu beizutragen.“
Doğan Özgüden
Die amtierenden Partei-Vorsitzenden der HDP und Yeşil-Sol Partei im türkischen Parlament – Foto: bianet.org