Liebe Freundinnen und Freunde des KulturForums,
Die Demonstrationswelle nach der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu hält an. Die Proteste nehmen inzwischen unterschiedliche Formen an. Der Kampf findet nicht mehr nur auf der Straße statt, sondern auch an der Supermarktkasse oder im Café. Protestierende haben eine Boykottliste von Geschäften erstellt, die der aktuellen Regierung nahestehen, und wollen sie dort treffen, wo das System der Kleptokratie und Patronage in der Türkei am empfindlichsten ist: am Geldbeutel. Ein Symbol dafür ist die landesweite Kaffeehauskette Espressolab, die zum Politikum geworden ist – während sich regierungsnahe Influencer offensiv mit Kaffeebechern des Franchise-Unternehmens zeigen, stellen Protestierende Bilder leerer Kaffeehäuser ins Netz.
Für den 2. April hatten Studentengruppen zu einem allgemeinen Boykott von Supermärkten, Cafés und Restaurants aufgerufen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Auch wenn die Auswirkungen nur in liberalen Stadtteilen wie Kadıköy in Istanbul sichtbar wurden, reagierte das AKP-Regime nervös. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft leitete Ermittlungen gegen Personen ein, die zum Boykott aufgerufen hatten, weil sie „Hass und Diskriminierung“ provoziert hätten. Eine Website der Oppositionspartei CHP, auf der die zu meidenden Marken und Geschäfte aufgelistet waren, wurde umgehend von einem Gericht in Ankara vom Netz genommen.
Unterdessen geht die Kriminalisierung der Proteste weiter. İmamoğlus Anwalt wurde kurzzeitig verhaftet, oppositionelle Medien mit Sendeverboten und Geldstrafen belegt, ausländische Journalisten verhaftet und abgeschoben. Demonstranten drohen sogar langjährige Haftstrafen, die Istanbuler Staatsanwaltschaft fordert in bekannt gewordenen Fällen bis zu drei Jahre Haft. Trotz der Sanktionen rief der CHP-Vorsitzende Özgür Özel zu einer Kundgebung in Istanbul auf, bei der Hunderttausende die Freilassung der politischen Gefangenen forderten. Unter den Verhafteten der letzten Verhaftungswellen befindet sich auch der Istanbuler CHP-Bezirksbürgermeister Mahir Polat. Aufgrund von Vorerkrankungen benötigt Polat regelmäßige medizinische Versorgung, die in Haft nicht gewährleistet werden kann. Sein Anwalt forderte daher bisher vergeblich seine Freilassung.
Am Montag endeten in der Türkei die Ferien nach dem Ende des Fastenmonats Ramadan. Beobachter rechnen nun mit einem Wiederaufflammen der Protesten und neuen Boykottaufrufen.
Luftbild der CHP-Kundgebung in Istanbul – Foto: © CHP