Liebe Freundinnen und Freunde des KulturForums,
Rund zwei Wochen nach dem unerwarteten Erdrutschsieg der oppositionellen Parteien bei den Kommunalwahlen in der Türkei herrscht in den Reihen der Opposition noch Misstrauen, ob nicht noch eine Finte von Präsident Erdoğan folgen würde – viele hatten schlicht seit rund einem Jahrzehnt kein derartiges Erfolgserlebnis bei Wahlen erlebt.
Die Zweifel keimten insbesondere nach den Vorkommnissen in der Provinz Van, wo dem mit großem Abstand gewählten Oberbürgermeister Abdullah Zeydan von der prokurdischen DEM-Partei die Ernennungsurkunde verweigert worden war.
Mit hanebüchenen rechtlichen Einwänden wollte die Wahlbehörde statt Zeydan den zweitplatzierten AKP-Kandidaten einsetzen, der nur auf 27 Prozent der Stimmen gekommen war. Der Vorgang erinnerte an die letzten zwei Legislaturperioden, in denen in Dutzenden Provinzen im Südosten der Türkei gewählte Bürgermeister:innen der DEM-Partei durch Zwangsverwalter der Zentralregierung ersetzt worden waren.
Doch dieses Mal gab es eine breite solidarische Aktion oppositioneller Kräfte, um sich gegen die Entscheidung zu stemmen: Im ganzen Land kam es zu Protesten, die auch von der größten Oppositionspartei CHP unterstützt wurden. Schließlich knickte die Wahlbehörde ein und vereidigte Zeydan doch noch. Ein kleiner Hoffnungsschimmer, weil die demokratische Bewegung in der Türkei über Parteigrenzen hinweg Solidarität walten ließ.
Die AKP hielt sich nach der Wahlniederlage zunächst bedeckt. Wenige Tage nach den Wahlen verhängte die Regierung jedoch weitreichende Exportbeschränkungen nach Israel. Beobachter bewerten dies als Reaktion der Regierung auf die im Wahlkampf laut gewordene Kritik, dass Ankara sich zwar rhetorisch an die Seite der Bewohner:innen des Gazastreifens stelle, im Hintergrund jedoch den Handel mit der israelischen Regierung sogar ausgeweitet hätte. Hier hatten insbesondere oppositionelle Medien im In- und Ausland es geschafft, mit ihrer Berichterstattung Erdoğan empfindlich zu treffen.
Ein Faktor für die Deutlichkeit der Niederlage, neben der andauernden Wirtschaftskrise und der weiter desolaten Lage in den Erdbebengebieten, dürfte die taktische Entscheidung vieler kurdischer Wähler:innen gewesen sein, für die chancenreichen oppositionellen Kandidaten zu stimmen. Die Stimmenwanderung zur islamistischen Neuen Wohlfahrtspartei tat ihr Übriges. Die Partei kommt aus der Millî Görüş-Bewegung, die auch den Nährboden für Erdoğans Karriere bereitet hatte. Wie nachhaltig dieser Erfolg ist, bleibt abzuwarten – für die säkulare Opposition wäre eine weitere stimmenstarke islamistische Partei ohnehin kein Grund zu feiern.
Die nächsten regulären Wahlen sollen erst im Jahr 2028 stattfinden, angesichts des Wahlmarathons, den das türkische Elektorat in der letzten Dekade hinter sich hat, gilt es für die Opposition nun die Erfolge zu konsolidieren und in ihren Mandaten nachhaltig zu zeigen, dass sich eine demokratische Alternative zu der aktuellen Regierungspolitik realisieren lässt. Dann können die Wahlen auch für die zahlreichen politischen Gefangenen, unter ihnen Selahattin Demirtaş, Gültan Kışanak, Osman Kavala und Can Atalay, einen Hoffnungsschimmer bedeuten.
Foto: Demonstration für den demokratisch gewählten Oberbürgermeister von Van, Abdullah Zeydan, in Mersin – © Evrensel