Editorial April 2023

16.04.2023 | Newsletter

Rund einen Monat vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei geht der Wahlkampf in die heiße Phase. Dabei liegt das Oppositionsbündnis um Präsidentschaftskandidat Kemal Kılıçdaroğlu Umfragen zufolge knapp vor der seit mehr als 20 Jahre regierenden AKP. Beim Kampf ums höchste Amt der Türkei wird voraussichtlich eine Stichwahl entscheiden, da den Prognosen nach kein Kandidat mehr als 50% der Stimmen im ersten Wahlgang auf sich vereinen kann. Das Zünglein an der Waage könnten die potentiellen Wähler:innen vom Muharrem İnce werden. Der ehemalige CHP-Politiker zieht mit der Memleket Partisi aktuell zwischen fünf und zehn Prozent auf sich und ist mit seinen erratischen Auftritten in der Öffentlichkeit vor allem bei jungen Leuten beliebt.

Die kurdisch-linke HDP wird nach längeren Diskussionen keinen eigenen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl aufstellen. Dieser Zug kann als stille Unterstützung für den Oppositionskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu verstanden werden. Auf Parlamentsebene treten Politiker:innen der HDP über die Liste der Grün-Linken Yeşil-Sol Parti an. Die Parteiführung will so ein drohendes Parteiverbot entschärfen, das aktuell erneut wie ein Damoklesschwert über der HDP im Wahlkampf schwebt. Der ehemalige Co-Parteivorsitzende der HDP Selahattin Demirtaş meldete sich derweil aus dem Gefängnis und kündigte an, dass seine Partei nach der Abwahl des Erdoğan-Regimes alles daransetzen würde, dass die PKK ihre Waffen niederlegt.

Wirtschaftsexpert:innen gehen davon aus, dass die Preise trotz hoher Inflationszahlen aktuell noch niedrig gehalten werden und nach den Wahlen explodieren könnten. Dass es bei dieser Wahl knapp werden wird, zeigt auch die Ausweitung der Kandidatenliste des AKP-Bündnisses. So wurden Vertreter der islamistischen Hüda-Par Partei in die Listen aufgenommen, die vor allem im Südosten der Türkei für ihre Nähe zur Terrororganisation Hizbullah bekannt ist.

Neben den drückend hohen Lebenshaltungskosten in der Türkei wird an der Wahlurne auch über die Reaktion der Regierung auf die Erdbebenkatastrophe entschieden. Während die AKP den Blick vor allem auf den kommenden Wiederaufbau richten will, ist die Situation für die Menschen vor Ort weiterhin angespannt. Es fehlt überall an sauberem Wasser, viele Dörfer sind noch immer nicht wieder angebunden und benötigen Hilfe von außen. Wie viele Menschen aus der Erdbebenregion, die aktuell woanders Schutz suchen, zur Stimmabgabe zurückkehren ist unklar. Umso wichtiger ist es, dass unabhängige Beobachterorganisationen unterstützt werden. Der demokratische Wandel ist am 14. Mai so nah, wie lange nicht mehr.

Foto: twitter.com/kilicdarogluk